Memoiren 1902 - 1945
mehr, es ist nur anstrengend. Die Alpinisten, die zu der Expedition gehörten, sorgten dafür, daß alles gut vonstatten ging. Nur das Wetter hatten die Bergführer nicht in ihrer Gewalt.
Wir wollten mit den Aufnahmen auf der Vallothütte beginnen. Um zwei Uhr nachts stiegen wir von der Grand-Mulet-Hütte auf. Der Schnee war um diese Zeit gefroren. Mit den Steigeisen kamen wir gut voran. Schon um sechs Uhr erreichten wir unser Ziel. Die dünne Luft machte mir keinerlei Beschwerden, wahrscheinlich nur deshalb, weil ich einen sehr niedrigen Blutdruck habe. Anders erging es Fanck und den Männern, die schwere Lasten zu tragen hatten, sie litten unter Atemnot und Kopfschmerzen.
Auch diese Hütte war ein jämmerliches Loch - zwölf Leute fanden gerade noch Platz, wenn sie dicht wie die Heringe nebeneinander lagen. Da war nichts als Eis und Schnee und gefrorene Decken. Wir hatten alles mit hinaufgeschleppt, sogar Kochtöpfe, Geschirr. Nicht einmal einen Herd besaß die Vallot.
Aber die Landschaft, in der sie steht! Sie ist umrahmt von den wildesten und gefährlichsten Gletscherbrüchen und Eiswänden, die man in Europa findet. Unaufhörlich krachte es, Lawinen und Eisblöcke stürzten in fast gleichmäßigem Rhythmus. Täglich veränderte sich der Gletscher. Es war schon Juni, der Schnee schmolz, und die Spalten öffneten sich zusehends. Wo noch vor einigen Tagen große Schneeflächen den Boden bedeckten, wurden jetzt Spalten sichtbar, groß und so tief, daß man den Kölner Dom oder den Tempel von Karnak darin verschwinden lassen könnte.
Fanck, besessen davon, die Einzigartigkeit dieser Bilder mit der Kamera einzufangen, dachte kaum je an die Gefahren, in denen wir uns befanden. Und das wurde ihm zum Verhängnis. Hunderte von Metern unter der Vallothütte waren die Apparate ausgepackt. Er ging einige Schritte voraus, um die besten Motive zu finden - da sahen wir, nur zwanzig Meter von uns entfernt, ihn lautlos entgleiten. Der Gletscher hatte ihn verschluckt. Totenstill war unsere kleine Gruppe - aber nur für wenige Sekunden. Dann erlebte ich, mit welcher Geistesgegenwart der Fancksche Stab in solchen Fällen arbeitete. In wenigen Sekunden schon fiel das Seil hinunter in die Spalte. Alle lauschten, während es Meter um Meter ablief. Die Gesichter unserer Männer wurden immer finsterer. Schon war die Hälfte des Seils abgerollt, zwanzig Meter hingen in der Gletscherspalte - da drang endlich ein Laut herauf, und wir atmeten auf. Ein Lebenszeichen! Die Männer spürten einen Zug am Seil. Nun zogen alle aus Leibeskräften, und dann erschien Fancks Kopf. Immer noch die Zigarette im Mund, die er während des Absturzes zwischen den Zähnen festgehalten hatte. Mit einer Ruhe, als sei nichts geschehen, kletterte er aus der Spalte, und schon wurden die Aufnahmen fortgesetzt.
Ein böser Wettersturz fesselte uns an die Hütte. Unsere Vorräte waren so gut wie aufgezehrt. Wir verfügten noch über Brotkrusten und dreifach aufgewärmten Kaffee-Ersatz. Bald wurde die Stimmung unter den Männern unerträglich, besonders für mich als einzige Frau. Zwar konnte mir keiner zu nahe kommen, aber die lange währende Enthaltsamkeit der jungen Männer machte sich Luft. Jeder versuchte, den anderen mit obszönen Witzen zu überbieten. Einige errichteten um die Hütte herum eindeutige Sexsymbole aus Eis und Schnee. Natürlich wurde ich bedrängt. Es war für mich eine unerträgliche Situation. Einer der jungen Leute bildete sich ein, sich so sehr in mich verliebt zu haben, daß er mit Selbstmord drohte und sich in eine Spalte stürzen wollte. Auch Fanck hatte mich noch immer nicht aus seinen Wunschträumen verbannt. Täglich steckte er mir in Prosa oder in Versform Zettel zu, die ständig erotischer wurden. Ich war erlöst, als wir endlich für zwei Tage nach Chamonix abfahren durften.
Unangeseilt, wie bei fast allen Fanckfilmen, sausten wir von den
4400 Metern hinab zur Bergstation, vorbei an den riesigen Spalten, hinweg über schmale Brücken, steile Hänge, durch Pulverschnee und Eis. Die Männer fuhren so rasant, daß ich ihnen nicht folgen konnte, aber einer unserer Bergführer, der Schweizer Beni Führer, blieb bei mir.
Der letzte Steilhang oberhalb der Grand-Mulet-Hütte war reines Eis. Trotz der Stahlkanten hatten die Skier keinen Halt. Ich flog über
50 Meter hinab und blieb auf einer Schneebrücke über einer riesigen Spalte liegen. Einen meiner Skistöcke sah ich im Abgrund verschwinden. Mir war
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