Mensch, Martha!: Kriminalroman
angesprochen wird. Becker war zu feige, Martha
brachte es auch nicht über sich, aber Thomas schaffte es: »Noll,
wir machen, was wir können. Aber hexen haben wir nicht gelernt.«
Sie antwortete: »Das ist aber schade!« und schien nichts zu
vermissen.
»Sie werden sich das Mädchen
nochmals vorknöpfen?«
»Ja«, antwortet Martha,
»heute Nachmittag.«
»Vielleicht verwickelt sie
sich weiter in Widersprüche. Dann bleibt ihr nicht viel mehr übrig,
als die Lüge zuzugeben. Und wir können das Verfahren einstellen.«
Und dann werde ich
Radspieler auf Knien um Verzeihung bitten.
»Es sei denn, die zwei anderen
Mädchen, die Sie in Ihrem Bericht erwähnen, erzählen uns etwas mit
Hand und Fuß. Was ich – offen gesagt – nicht glaube. Und Sie,
Morgenstern?«
Martha zuckt mit den Schultern.
»Vielleicht wissen wir heute Nachmittag schon mehr.«
»Dem Kinderarzt sind Sie ja
ganz schön auf die Füße getreten«, bemerkt die Noll, während sie
in den Unterlagen blättert. Sie sieht Martha über den Rand ihrer
Lesebrille an.
»Tja, ich bin da ... irgendwie
falsch eingestiegen ...«
»Weiter als nötig. Tiefer als
gut ist«, sagt die Noll in den Aktendeckel hinein.
Nicole ist für vierzehn Uhr vorgeladen. Martha
ist froh, dass nicht Körner sie begleitet, sondern eine Erzieherin,
die sich mit Frau Fischer vorstellt. Die Frau entspricht nicht
Marthas Vorstellung von einer Erzieherin in einem Kinderheim. Sie ist
etwa so alt wie Martha und mit ihrer teuren Kleidung setzt sie einen
starken Kontrast zu ihrem Schützling. Nicole trottet hinter ihr her
wie ein großer Hund. Sie trägt immer noch die gleiche Jeans,
darüber ein ausgewaschenes Sweatshirt, das kaum den Hosenbund
erreicht. Die Naht am Reißverschluss droht aufzuplatzen.
Thomas und Martha haben sich
abgesprochen; er wird das Gespräch führen.
Martha setzt sich an Beckers
wohlaufgeräumten Schreibtisch. Laut Krankmeldung wird sich Beckers
Kreislauf erst Anfang nächster Woche wieder stabilisiert haben.
Thomas bietet Kaffee an, beide
lehnen ab.
»Jetzt sag uns mal Nicole,
weshalb du uns angelogen hast. Was ist der Grund, dass du Herrn
Radspieler eine so üble Sache anhängen willst?« eröffnet er das
Gespräch ohne Umschweife.
Er klingt freundlich und
verbindlich.
Frau Fischer schnappt nach
Luft, Nicole springt vom Stuhl hoch wie von einem Reflex gesteuert.
»Das ist überhaupt nicht
wahr! Ich lüge nicht! Was fällt Ihnen ein, das zu behaupten!«
»Setz’ dich wieder hin und
gib mir eine Antwort auf meine Frage«, sagt Thomas ruhig.
»Frau Fischer!« Nicole wendet
sich hilfesuchend an sie. Frau Fischer macht eine
beschwichtigende Handbewegung. »Man hat es ja schon oft gehört, wie
Frauen, die Opfer von Sexualverbrechern werden, von der Polizei
mies behandelt werden. Was sich hier anbahnt, bestätigt diese
Meinung in trauriger Weise.«
Wir behandeln die Opfer
nicht mies. Aber es passt zu dir, dass ausgerechnet du so etwas schon
oft gehört hast .
»Wenn Sie wüssten, was wir
hier schon alles gehört haben. Was wir hier schon alles erlebt
haben«, antwortet Thomas und diesmal stellt Martha den rechten
Daumen nach oben.
»Es geht aber hier wohl nicht
darum, was Sie erleben, sondern was Nicole erleben hat müssen!«
hakt Frau Fischer nach.
Thomas räuspert sich. »Also
gut. Ich hatte gehofft, wir könnten die Prozedur abkürzen. Wir
können aber auch gerne noch einmal das ganze Programm durchlaufen
lassen«, fährt er gelassen fort.
Nicoles Augen füllen sich mit
Tränen. Frau Fischer tätschelt ihre Hand. »Lass dich hier nicht
einschüchtern. Nur du weißt, was passiert ist.«
»Wie wir bereits wissen, war
die Sprechstundenhilfe schon weg. Wie bist du in die Praxis
gekommen?«
»Ich hab geklingelt und er hat
die Tür geöffnet.«
»Und dann?« Thomas notiert
sich etwas.
»Wie oft soll ich den Scheiß
noch erzählen? Es steht doch alles schon in der ihren Akten!«
Nicole zeigt mit dem Daumen in Marthas Richtung.
»Ich frage mich wirklich, ob
das alles nötig ist. Ob es sein muss, diese unappetitliche
Angelegenheit abermals durchzukauen«, mischt sich Frau Fischer
wieder ein.
»Sprechen Sie Französisch?«
fragt Thomas ohne von seinem Blatt aufzusehen.
»Ja, warum?« fragt sie
verwirrt.
»Sehen Sie, ich nicht. Deshalb
werde ich mich hüten, Ihnen darin Nachhilfe zu erteilen.«
Frau Fischer braucht ein paar
Sekunden um zu begreifen. »Ich werde mich bei Ihrem Vorgesetzten
beschweren!«
»Das steht Ihnen frei.«
Thomas wendet sich
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