Mensch, Martha!: Kriminalroman
jetzt?«
»Ab jetzt.«
Nadine wickelt eine Kordel, die
durch ihren Fleecepullover gezogen ist, fest um den Zeigefinger.
»Also gut. Es stimmt nicht, was ich herumerzählt habe.«
»Was hast du herumerzählt?«
will Martha wissen.
»Dass mich der Doktor untenrum
angefasst hat, obwohl ich Halsschmerzen hatte.«
»Und warum hast du das
erzählt?«
Nadine kaut auf ihrer
Unterlippe. »Nicole wollte es.«
Thomas zieht die Augenbrauen
hoch.
»Nicole Scherbaum?«
»Ja. Sie hat mir erzählt, was
ihr passiert ist. Dann wollte sie wissen, ob ich ihr glaube.«
»Hast du?«
»Klar. Ich bin ihre Freundin.
Sie sagte: Die anderen glauben mir bestimmt nicht. Aber du kannst mir
helfen!« Die Fingerkuppe des umwickelten Fingers wird ganz
weiß.
»Und wie dachte sie sich diese
Hilfe?«
»Wenn zwei gegen einen das
Gleiche behaupten, muss die Polizei den beiden glauben.«
Theoretisch richtig. War
schon im Alten Testament so.
Thomas streicht sich über sein
gut rasiertes Kinn. Erst jetzt bemerkt Martha seinen schiefen
Mund und die geschwollene Backe. »Manchmal aber ist das auch unfair:
zwei gegen einen.«
»Aber doch nicht in dem Fall.
Er hat Nicole ...«
»Aber dich nicht?«
unterbricht Martha sie.
»Nein, mich nicht.«
Martha nimmt ihre rechte Hand
und befreit den Zeigefinger von der Kordel. »Mädchen, mach so was
nie wieder!« warnt sie und meint damit nicht das Abschnüren eines
Fingergliedes.
Michaela Dürr ist hartnäckig. Auch sie ist
bereits sechzehn, aber Thomas’ Vorspann über die Strafmündigkeit
fruchtet nicht. Michaela scheint auch nicht von Nicole
beeinflusst worden zu sein, denn als Martha in diese Richtung
vorstößt, sagt sie keck: »Die spinnt doch! Als ob ein attraktiver
Mann die anfasst!«
Michaela ist hübsch. Sie hat
ein spitzbübisches Gesicht und eine pfiffige Kurzhaarfrisur. Sie
berichtet, dass sie am Donnerstag wegen Husten einen Termin bei
Radspieler hatte. Am folgenden Samstag habe er sie in die Praxis
bestellt, um zu sehen, ob die Medikamente anschlagen würden. »Ich
musste mich dann ausziehen und er hat mich … na, Sie können sich
schon denken, was.«
»Eigentlich nicht«, antwortet
Thomas. Seine Stimme klingt matt.
»Na ja, er wollte halt mit mir
schlafen.«
Ob dieser Rotz wahr ist oder
nicht. Ich mag ihn nicht hören. »In seinem Sprechzimmer?«
Michaela lacht: »Nein. Ich
musste mit ihm nach oben in seine Wohnung gehen.«
Michaela Dürr hat sich selbst
eine Falle gestellt. Noch weiß sie es nicht. Martha gibt ihr ein
paar Sekunden Zeit, dann lässt sie sie stürzen. »Beschreib
doch mal die Wohnung.«
Innerhalb einer Millisekunde
realisiert Michaela Dürr den Fehler. Sie wird rot, sie schluckt,
ihre Unterlippe bebt. Sie braucht einen Moment, um sich einigermaßen
zu fangen. Ihre Stimme ist brüchig geworden. »Ich hab nicht darauf
geachtet. Ich war so durcheinander. Ich hatte Angst.«
Martha blickt ihr in die Augen.
»Beschreibe irgendetwas!« Was ist das für eine Müllhalde, auf
der wir hier alle rumlaufen?
»Ich weiß nichts mehr. Äh …
ich hatte die Augen zu.«
Martha rückt mit dem Stuhl
dicht an Michaela heran, sodass sie sich Auge in Auge gegenübersitzen
und Michaela Marthas Blick nicht mehr ausweichen kann. Michaela
schwitzt. Sie reibt die Handflächen an der Hose ab.
»Kann es sein, dass du uns
hier einen Bären aufbinden willst?«
»Nein!«
»Wie ging es weiter?«
»Ich bin weggelaufen.«
»Nackt?«
»Ich bin nach unten gelaufen,
schnell in meine Kleidung geschlüpft und davongerannt.«
Martha und Thomas tauschen
Blicke. Thomas ist grau im Gesicht. Er weist sie noch einmal auf
ihre Strafmündigkeit hin. Dann holt er seine Visitenkarte hervor und
notiert seine Handynummer auf die Rückseite. Er blickt auf seine
Armbanduhr. »Es ist jetzt Viertel vor drei. Du kannst uns bis
vier Uhr anrufen und die Sache richtig stellen. Oder uns
aufsuchen. Wir gehen noch ins Gelbe Haus.« Er macht eine Pause und
Martha realisiert, dass es keine Kunstpause ist. Es geht ihm
schlecht. »Eine Minute nach vier leite ich deine Story
offiziell weiter. Was dann kommt, wird nicht lustig.«
Michaela nimmt die Karte
entgegen. Ihre Hand zittert leicht.
»Hast du mich verstanden?«
Michaela nickt.
»Was ist das bloß für eine Müllhalde?« seufzt
Martha.
»Tja. Eine von vielen. Lass
uns rausfinden, wo die nächste ist. Aber vorher brauche ich was
gegen meine Zahnschmerzen.« Er schluckt zwei weitere Tabletten.
»Und ich eine Zigarette.«
Die Erzieherin vom Gelben Haus ist
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