Menschenfänger
ich mich fast genauso intensiv sehne wie nach Liebe. Ich werde mich aus diesem verkorksten Leben verabschieden. Es wird endlich Zeit, meine unnütze und jetzt auch noch kriminelle und pflichtvergessene Existenz zu vernichten.
Dabei wird es wenig spektakulär zugehen. In meinem Leben gab es auch keine wirklich interessanten Phasen – bis auf eine – und so wird meine Art zu sterben perfekt zu meiner Art zu leben passen.
Mein lieber Klaus,
ich wünsche Dir alles Glück der Welt auf Deinen geheimnisvollen Pfaden. Ich hoffe sehr, dass Du keine weiteren Morde mehr begehen wirst und als friedlicher Familienvater in Ruhe alt werden kannst.
Du musst nun den Rest des Weges ohne mich gehen – weil ich zu feige war, mich Dir anzuschließen, einen Mörder auf seinem Weg in die Freiheit zu begleiten. Nimm mir meine Schwäche nicht übel und mach das Beste aus dieser neuen Situation!
In Liebe
Deine Evelyn.
Alle anderen Eintragungen waren aus den Heften herausgerissen und Nachtigall konnte nur spekulieren, was dort gestanden haben mochte. Wahrscheinlich alle Details zu den Vorbereitungen der Flucht, alle Überlegungen, wie es nach dem Verlassen der JVA weitergehen sollte, alle längerfristigen Zukunftspläne. Evelyn Knabe hatte nur sich, nicht aber Klaus Windisch an die Polizei verraten wollen. Selbst über den eigenen Tod hinaus hielt sie zu ihrem Klaus und minderte durch kein Wort, keinen noch so kleinen Hinweis seine Chance auf Entkommen.
Dieser Windisch musste ein unglaubliches Geschick im Umgang mit anderen Menschen haben, wurde Nachtigall bewusst, Vollzugsbeamte waren schließlich geschult, sie fielen nicht auf billige Tricks rein. Wie hatte er gemerkt, dass diese Beamtin anfällig war?
Dazu musste er sie möglicherweise nur ein paar Tage lang beobachten, ihren Gang studieren, merken, dass sie den Blicken der Menschen um sich herum auswich, mit keinem der Kollegen scherzte. Der Mann verfügte über eine gute Menschenkenntnis. Ob er diese Fähigkeit auch bei seinem aktuellen Opfer ausgespielt hatte?
Peter Nachtigall wälzte sich unruhig in seinem Bett herum.
War er wach, dachte er darüber nach, was ein Mann wohl empfinden mochte, der eine Frau auf so widerwärtige Weise quälte – schlief er ein, erschienen ihm die Gesichter der Frauen im Traum, die ihn aus diesen aufgerissenen Augen verzweifelt anstarrten und ihn anflehten, den Täter zu fassen, oder er hatte plötzlich das Bild der Maden vor Augen, die dicht an dicht über Evelyn Knabes Körper krochen. Er war dann froh, wieder aufwachen zu dürfen.
Wie war es möglich, eine Vollzugsbeamtin in so kurzer Zeit derart ›umzudrehen‹? Er musste auf Evelyn Knabe von Anfang an überzeugend gewirkt haben. Vielleicht hatte er so ein Gespür für einsame Menschen, bei denen ein bisschen Freundlichkeit auf einen fruchtbaren Boden fiel und sofort zu keimen begann. Offensichtlich hatte sich diese Frau fest an ihre Überzeugung geklammert, er sei ein unschuldiges Opfer und noch hilfloser und verlassener als sie selbst. Mit Intellekt hatte diese Reaktion nichts zu tun, wusste er, es war eine emotionale Falle, in die jeder tappen konnte. Funktionierte diese Methode nur bei Frauen, oder waren auch einsame Männer leicht zu manipulieren?
Er drehte sich auf den Rücken und lauschte Casanovas Schnarchen. Der Kater hatte sich nach einigen Gesprächen von Mann zu Mann zufrieden auf einem Kissen vor Nachtigalls Bett zusammengerollt.
Nachtigalls Gedanken kehrten wieder zu Johanna Merkowski zurück. War das Verhalten dieses Mörders – biologisch gesehen – eine einmalige Entgleisung, Fehlsteuerung der Hormone oder etwas in der Art, oder gab es irgendwo noch andere Spezies, die ein Mitglied ihrer Art derart brutal foltern würden?
Von Schimpansen, grübelte er weiter, wusste man, dass sie regelrecht Jagd auf Artgenossen machten und einzelne Tiere mit Stöcken und Steinen erschlugen – aber foltern zum Zweck eines Lustgewinns war dabei nicht im Spiel. Wahrscheinlich brachten nur Menschen so etwas fertig, er gähnte, das bewies nur, wie unterentwickelt ihre soziale Kompetenz war.
Eine Stunde später gab er die Bemühungen um Schlaf auf.
Das erste Band war rasch eingelegt und die angenehme Baritonstimme des Mörders erzählte ohne Vorbehalte dem Kollegen Hansen von seinen Taten.
PROTOKOLL VOM 27.6.1998
»Sie sind Klaus Windisch?«
»Aber sicher!«, bestätigte der Angesprochene stolz.
»Sie werden verdächtigt, Mildred Knappe und ihre
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