Menschenfänger
Geräusch der Bahn nach einiger Zeit nicht mehr?«
»Eine befreundete Familie von uns wohnt an der Madlower Hauptstraße. Da fährt die Bahn direkt am Wohnzimmerfenster vorüber, und es stimmt schon, man nimmt es nicht mehr wahr. Die Dame des Hauses erzählt immer, zu Anfang sei die ganze Familie mit der ersten Bahn morgens aufgewacht und erst nach der letzten eingeschlafen. Eine echte Belastung. Aber jetzt müssten sie sich schon Mühe geben, um sie zu hören, zum Beispiel, wenn sie planen, mit der nächsten in die Stadt zu fahren. Selbst im Garten hört man sie nicht mehr.«
»Jule meint, sie hört die Bahn.«
»Sie wohnt doch erst seit Kurzem am Altmarkt. Ein bisschen Zeit braucht man schon, um sich daran zu gewöhnen.«
»Ich glaube ohnehin, im Sommer werden ihr die Café- und Kneipenbesucher unter ihrem Fenster mehr Probleme bereiten als die Straßenbahn«, lachte Nachtigall. »Im ›Mosquito‹ sind dann wieder am Wochenende Livekonzerte und auf dem Marktplatz finden jede Menge Feste statt.«
Die meisten Bewohner hatten schon damit begonnen, ihre Gärten auf den Winter vorzubereiten, der nun wohl nicht mehr lange auf sich warten lassen würde. Der Wetterbericht hatte für die kommenden Tage erneut einen kräftigen Temperaturrückgang vorhergesagt.
Frau Clemens war eine schicke Frau Ende 30. Ihre Haare hatte sie im Nacken zu einem Knoten hochgesteckt, aus dem mehrere Holzstäbchen herausragten. Jeans und modische weiße Bluse verstärkten den Eindruck von Vitalität und Sportlichkeit. Ihr Gesicht war geschickt geschminkt und der sinnliche Mund mit leuchtend rotem Lippenstift betont. An ihren Armen klimperten leise unzählige silberne Reifen und Armbänder. Peter Nachtigall war überrascht. Er hatte eine deutlich unauffälligere Dame erwartet.
»Hauptkommissar Peter Nachtigall, Kriminalpolizei Cottbus. Das ist mein Kollege Albrecht Skorubski«, stellte er vor und präsentierte seinen Dienstausweis.
Hildegard Clemens nickte nur.
»Das habe ich fast erwartet. Sie kommen natürlich wegen Klaus.«
Eine elegante Handbewegung lud die Beamten ein einzutreten. Sie führte die beiden durch den schmalen Flur in ein großzügiges Wohnzimmer. Als Sitzgelegenheiten dienten Naturholzbänke mit dicken Kissen darauf – ohne Lehne. Überall standen weiße und blaue Kerzen auf rohen hölzernen Tabletts und verbreiteten neben einem sanften Licht auch einen dezenten, herben Duft. An den Wänden hingen Aufnahmen wilder Landschaften, die den Besucher wie durch ein Fenster in die Weite blicken ließen. Naturklänge erfüllten den Raum. Wind, Regen, Meeresrauschen.
»Klaus ist ausgebrochen. Ich habe es in den Nachrichten gehört.«
»Ja – und wir fürchten, dass er wieder einen Mord begangen hat.«
»Und ich fürchte, dass Sie da völlig auf dem Holzweg sind. Klaus hat schon die ersten beiden Morde nicht begangen. Der wahre Täter hat die Nachricht von seiner Flucht gehört und hat wieder zugeschlagen. Wohlwissend, dass Sie natürlich auch diese Tat Klaus in die Schuhe schieben würden.«
»Hat er das behauptet?« Noch eine Frau, die ihm diesen Unsinn bereitwillig abgenommen hatte! Nachtigall konnte es kaum glauben.
»Nein. Aber ich bin gut, was die Beurteilung von Menschen angeht. Seine Beteuerung der Unschuld wäre mir nicht ausreichend erschienen, doch ich spürte deutlich diese Klarheit seiner Aura und wusste: Dieser Mann lügt nicht – er hat diese Morde tatsächlich nicht begangen. Und auch der dritte – davon bin ich fest überzeugt – geht auf das Konto desjenigen, der nur auf seine Chance gewartet hat«, beharrte sie unerschütterlich, und Nachtigall dachte an die gequälten Frauen, denen dieser Mann nach Stunden in einem letzten Triumph den Tod schenkte, und schauderte.
»An den Tatorten wurde sein Sperma gefunden.«
»Natürlich. Er war ja dort Kunde. Der Mörder kam, nachdem Klaus gegangen war. Aber schon damals haben Ihre Kollegen nicht wirklich versucht, den wahren Täter zu finden. Man hatte ja Klaus – und das schien allen Beteiligten zu reichen«, empörte sie sich.
»Haben Sie nie gezweifelt? Stellen Sie sich vor, in welcher Gefahr Sie schweben könnten, falls Sie ihm zu Unrecht glauben«, mahnte Nachtigall eindringlich.
»Klaus tut keiner Fliege was zuleide. Er ist verträumt, fantasievoll, sanft«, schwärmte Hildegard Clemens versonnen.
»Mit dieser Auffassung stehen Sie allerdings ziemlich alleine da. Ich muss Ihnen sagen, der Rest der Welt beurteilt Klaus Windisch komplett anders.
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