Mercy - Die Stunde Der Rache Ist Nah
Bledsoes Gesicht nahm einen harten Ausdruck an. »Die
Eltern der Caldwell-Zwillinge haben uns sechs Jahre lang jede Woche angerufen,
dann haben sie sich angeblich scheiden lassen.«
»Und es hat bislang keine ähnlichen Fälle
gegeben?«, erkundigte sich Riva und blickte zurück zum Lagerabteil. »Könnte es
sich um einen Nachahmungstäter handeln?«
Bledsoe schüttelte den Kopf. »Ein paar der
Details sind nie an die Medien und damit nie an die Öffentlichkeit gelangt. Das
rote Band, der pinkfarbene Textmarker. Dass ihre Kleidung so ordentlich
zusammengefaltet war, als hätte Mommy oder das Hausmädchen es für sie
erledigt.« Bledsoe spähte über Hayes' Schulter. »Wenn man von den Medien
spricht ...«
Hayes drehte sich um und sah Joanna Quince, die
zielstrebige Nachrichtenreporterin von vorhin, mit einem der Uniformierten an
der Absperrung sprechen. Er verzog das Gesicht und wandte sich ab, doch Quince
hatte die Detectives bereits entdeckt und erkannte Bledsoe. »Detective!«, rief
sie. »Darf ich Ihnen ein paar Fragen stellen? Stimmt es, dass es sich um einen
Doppelmord handelt? Zwei Mädchen in einem der Abteile?«
»Ich übernehme das«, sagte Bledsoe. Bledsoe
mochte die Medien, das stand fest, doch er würde nicht zu viel preisgeben. Er
würde Joanna Quince an den für die Information der Öffentlichkeit zuständigen
Beamten verweisen, der eine Erklärung abgeben und Fragen beantworten würde,
sobald die nächsten Angehörigen der Opfer informiert wären.
Diese Aufgabe - es der Familie mitzuteilen -
wurde Hayes zuteil, und dem fiel es beinahe ebenso schwer, mit den fassungslosen
Hinterbliebenen zu sprechen wie die Leichen zu sichten.
Bentz raste mit gerade noch zulässiger
Höchstgeschwindigkeit über die 1-5, die Interstate, die von Kanada bis nach
Mexiko führte, obwohl man hier ohnehin schneller fuhr, als er es von Louisiana
gewohnt war. Die Sonne stand tief am Horizont, und es herrschte dichter
Verkehr. Bentz hatte erwartet, nach Los Angeles zurückzukehren und sich wie zu
Hause zu fühlen - wenn schon nicht bei der Polizei, dann doch in der Gegend an
sich. Schließlich hatte er hier viele Jahre seines Lebens verbracht. Doch nein,
er fühlte sich wie ein Fisch auf dem Trockenen.
Der Anruf von Olivia beschäftigte ihn, und er
fragte sich nicht zum ersten Mal, ob es nicht ein großer Fehler gewesen war,
nach L.A. zu fliegen. Er hatte damit nicht nur seine Frau aufgebracht, sondern
lief auch Gefahr, dass Melinda Jaskiel, seine Vorgesetzte in New Orleans, ihn
ruckzuck nicht nur zurück in die Physio-, sondern auch in Psychotherapie
schicken würde, wenn sie herausfand, dass er an der Westküste einer toten Frau
hinterherjagte. Vielleicht würde sie ihn auch endgültig vom Dienst
suspendieren, weil sie davon ausging, dass er übergeschnappt war, womit seine
Karriere als Cop beendet wäre. Na und? Es ist schließlich nicht so, dass das
NOPD ohne dich nicht funktioniert. Wer weiß, wann beziehungsweise ob du
überhaupt deinen Dienst wieder antreten darfst. Bentz' Finger schlossen sich
ums Lenkrad, und er wechselte mehrfach die Spur. Ein Plakatmobil brauste an
seinem Ford Escape vorbei, als würde er auf der Stelle stehen. Er blickte auf
seinen Tachometer. Er fuhr siebzig Meilen die Stunde.
Das Handy klingelte. Rick stellte das Radio aus
und blickte aufs Display. Montoyas Nummer. Gut. Er brauchte eine Ablenkung von
Olivia.
»Wird auch Zeit, dass du anrufst«, meldete er
sich. »Hast du was für mich?«
»Nicht viel. Keine fremden Fingerabdrücke auf
Briefumschlag oder Sterbeurkunde, nur deine und meine.« Bentz fluchte
unterdrückt.
»Du hast doch nicht wirklich damit gerechnet, dass
wir etwas finden, oder?«
»Nein, trotzdem dachte ich, wir hätten
vielleicht Glück, weil der Kerl möglicherweise nachlässig war.«
»Unwahrscheinlich. Die DNS-Analyse ist noch
nicht zurück, aber ich wette um ein Jahresgehalt, dass der Kerl die Briefumschlaglasche
nicht angeleckt hat. Heutzutage kennt sich doch jeder mit diesem Mist aus, wenn
er CSI guckt
oder Law & Order oder
wie diese Fernsehserien auch immer heißen.«
»War reine Vermutung«, gab Bentz zu. Sein Blick
fiel auf die Ausfahrt.
»Ich lasse gerade die Tinte analysieren, mit der
das rote Fragezeichen auf die Sterbeurkunde gekritzelt wurde, aber vermutlich
kommt nichts von Belang dabei heraus.«
»Der Versuch schadet ja nichts.« Bentz ging vom
Gas, setzte den Blinker und ordnete sich auf der Abbiegespur ein. »Weißt du,
vielleicht solltest du
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