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Meridian

Titel: Meridian Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Amber Kizer
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wirst, aber ich hoffe, dass Dir die vollen einhundertundsechs vergönnt sein werden. Halt die Augen offen und wachse an Deinen Erfahrungen. Ich bin stolz auf Dich, mein Kind, und werde Dich beobachten.
    Deine Tante
    Ich putzte mir die Nase und wischte mir die Augen ab. Ein normales Leben würde es wohl für mich nicht mehr geben. Ich öffnete eine Tüte Bergsteigernahrung und eine Saftdose, sah nach der trocknenden Kleidung und betrachtete Charles’ Wandgemälde, froh, dass er und Merry einander im Jenseits wiedergefunden hatten.
    Tens schlief immer noch, wälzte sich aber unruhig hin und her. Als er die Decken wegschleuderte, ging ich zuihm hin über, leuchtete ihn mit der Laterne an und schnappte beim Anblick der roten Flecken auf seinem Gesicht, seinen Armen und seinen Händen erschrocken nach Luft.
    »Tens! Tens! Wach auf.« Ich beugte mich über sein Gesicht. Er glühte. Seine Haut war so heiß, dass sie sich gleichzeitig papieren und rauh anfühlte.
    »Meri.« Er versuchte sich zu bewegen. »Licht zu hell. Krank.«
    »Was ist los? Kannst du mir sagen, was dir fehlt?«
    »Sehr krank. Sehr.« Er wurde von Schüttelfrost gebeutelt. »Kann dich kaum sehen.«
    Sollte das heißen, dass er das Licht, das Fenster erblickte? Nein! Ich würde ihn nicht sterben lassen.
Denk nach. Denk nach. Vertrau deinen Instinkten.
    Custos kam angetrottet und begann, an der Vorderseite meines Rucksacks zu scharren. Ich beobachtete, wie sie verzweifelt versuchte, den Reißverschluss der Außentasche zu öffnen.
Spitze, jetzt trifft schon eine Wölfin die Entscheidungen für mich.
Ich beugte mich vor, um zu sehen, was sie suchte.
    »Ach, herrje!«, rief ich aus und griff nach dem Zettel mit der Telefonnummer von Josiah und der Visitenkarte von Doktor Portalso-Marquez, auf der auch ihre Privatnummer stand. Die Senora und ihre Tochter würden mir helfen. Josiah auch, das wusste ich genau.
    Denk nach, denk nach.
    »Vertrau deinen Instinkten. Vertrau deinen Instinkten«, sagte ich mir. Da sträubte sich plötzlich Custos’ Fell, und sie fletschte knurrend die Zähne. Dann umrundete sie mich und schob mich rückwärts zu Tens hinüber. Als ich michbückte, um sie zu beruhigen, bemerkte ich einen Schatten im Höhleneingang. Der widerwärtige Geruch von teurem Rasierwasser und Weihrauch verriet mir, dass Reverend Perimo uns gefunden hatte.
    »Ach, wie reizend, die kleine Hexe führt Selbstgespräche.« Er applaudierte.
    Ich richtete mich auf, um Tens zu beschützen. »Reverend Perimo? Wie ist Ihr richtiger Name?«
    »Ach, Klaus Perimo geht gut ins Ohr. Es macht mir auch Spaß, Reverend zu sein. Die Leute vertrauen einem. Genau nach meinem Geschmack.«
    »Sie sind ein Aternoctus. Sie haben Celia zu sich geholt. Deshalb habe ich mich so erleichtert gefühlt, als Sie in jener Nacht erschienen sind. Weil Sie sie mitgenommen haben, hat sie nicht mehr an mir gezerrt.«
    »Herzlichen Glückwunsch. Rufen Sie Ihren Hund zurück, Meridian. Ich werde nicht zögern, von dieser Waffe Gebrauch zu machen.« Er zielte mit einer Pistole auf Custos.
    Ich legte ihr die Hand auf den Kopf, aber sie rührte sich nicht von der Stelle. »Offenbar mag sie Sie nicht.«
    »Rufen Sie sie zurück.« Er schwenkte die Pistole.
    Ich beugte mich zu ihrem Ohr hinunter. »Kannst du mich verstehen? Ich brauche Hilfe, um Tens zu retten. Lauf los. Hol Hilfe.«
    Sie wich zum hinteren Ende der Höhle zurück.
    »Lauf«, rief ich. Custos rannte in die Dunkelheit hinein.
    »Jetzt schickt sie einen Hund los. Wie bei Lassie. Ich finde Sie amüsant. Anstrengend zwar, aber auch recht unterhaltsam.« Perimo schlüpfte aus seiner Jacke und zielte wiedermit der Waffe auf mich. »Es ist wirklich warm hier drin.«
    »Ich wette, Sie sind die Hitze gewöhnt«, meinte ich, nahm einen Waschlappen und benetzte ihn mit geschmolzenem Schnee.
    »Spielen Sie damit auf die Hölle an?« Er kicherte. »Wir werden so oft missverstanden. Ich habe Ihnen ein kleines Geschenk mitgebracht. Ihr erstes Foto.« Er entfaltete die Lokalzeitung und warf sie zwischen uns auf den Boden.
    Anstatt sie aufzuheben, legte ich Tens liebevoll den Waschlappen auf die Stirn. Es versetzte mir einen kleinen Stich ins Herz, als er vor mir zurückzuckte.
    »Seien Sie doch nicht so. Ich verrate Ihnen sogar, wie die Schlagzeile lautet ›Jugendliche Anarchistin auf der Durchreise sprengt Zug in die Luft‹. Auf dem Foto halten Sie ein totes Baby im Arm. Kein guter Tag für Sie. Sie haben einhundertsiebenundfünfzig Menschen getötet,

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