Meuterei auf der Elsinore
Konnte jemand so töricht sein, daß er das nicht von selbst begriff? »Tun? Nun, was tat er mit dem alten Kapitän Sommers? Seit drei Jahren ist er zwar verschwunden. Niemand hat etwas von ihm gehört. Aber er ist Seemann und wird früher oder später auf die See zurückkehren, und dann…«
Der Untersteuermann steckte sich gerade die Pfeife an, und beim Schein der flackernden Flamme sah ich Pikes Gorillaarme mit den ungeheuren geballten Fäusten gen Himmel gehoben, während sein Gesicht sich vor Aufregung verzerrte. Im selben kurzen Augenblick sah ich die Hand des Untersteuermanns, der das Streichholz hielt, zittern.
»Ich habe auch nie eine Photographie von ihm gesehen«, fügte Pike hinzu. »Aber ich habe eine ganz allgemeine Vorstellung davon, wie der Kerl aussieht, außerdem hat er ein Zeichen, das nicht irreführen kann. Ich werde ihn selbst im Dunkeln erkennen. Ich brauche nur nachzufühlen.«
»Wie, sagten Sie, hieß der Kapitän, Steuermann?« fragte Mellaire scheinbar gleichgültig.
»Sommers… der alte Sommers«, antwortete Pike.
Mellaire wiederholte den Namen und sagte dann verwegen: »Hat er nicht mal die Lammermoor befehligt… vor dreißig Jahren, glaube ich…?«
»Ganz recht. Das ist er.«
»Dacht’ ich doch, daß ich ihn kannte. Ich ankerte mal direkt neben ihm… in der Tafelbucht.«
»Oh, diese dreckige Welt«, murmelte Pike noch, als er sich langsam und mit schleppenden Schritten entfernte.
Ich sagte dem Untersteuermann gute Nacht und wollte nach unten gehen, als er mich mit leiser Stimme zurückrief.
»Herr Pathurst!«
Ich blieb stehen. Und da sagte er, überstürzt und verwirrt: »Ach nichts… ich bitte um Verzeihung.«
Als ich in meiner Koje lag, fühlte ich, daß ich tatsächlich nicht imstande war zu lesen. Immer wieder kehrten meine Gedanken zu dem zurück, was soeben an Deck geschehen war, und gegen meinen Willen tauchten die unheimlichen Bilder wieder in meinem Kopfe auf.
Plötzlich kam Mellaire lautlos in meine Kajüte und hielt den Zeigefinger warnend vor den Mund. Erst als er neben meiner Koje stand, begann er flüsternd zu reden.
»Ich bitte um Verzeihung, Herr Pathurst. Ich bitte um Verzeihung, aber sehen Sie… ich kam zufällig vorbei und sah, daß Sie noch wach waren… ich dachte mir, daß es Sie nicht stören würde… sehen Sie, ich möchte Sie um eine Gefälligkeit bitten… ich… ich… äh…«
Ich wartete ruhig, daß er weitersprechen sollte. In der Pause, während er sich die trockenen Lippen mit der Zunge netzte, sah mich das Wesen, das in seinem Gehirn verborgen war, durch seine Augen an und schien fast herauszuspringen und sich auf mich stürzen zu wollen.
»Es ist nur eine ganze Kleinigkeit«, begann er wieder, diesmal zusammenhängender, »eigentlich lächerlich… aber Sie werden sich vielleicht erinnern, daß ich Ihnen zu Beginn der Reise eine Narbe auf meinem Kopf gezeigt habe… eine ganz unbedeutende Geschichte, die ich mir einmal geholt habe… Aber ich geniere mich, sie jemand zu zeigen. Nicht um alles in der Welt möchte ich, daß zum Beispiel Fräulein West etwas davon wissen sollte… Sie verstehen… Sie haben ihr doch nichts davon gesagt?«
»Nein«, sagte ich. »Zufällig nicht.«
»Auch sonst niemand? Zum Beispiel Kapitän West? Oder Pike vielleicht?«
»Ich habe es keinem gesagt«, antwortete ich.
Er konnte die Erleichterung, die er empfand, nicht ganz verbergen. Das Verstörte verschwand aus seinem Gesicht. Das verborgene Wesen zog sich wieder tiefer in sein Gehirn zurück.
»Der Gefallen, um den ich Sie bitten möchte, Herr Pathurst, besteht darin, daß Sie mir versprechen, keinem etwas von dieser Bagatelle zu erzählen. Es ist wohl« – er lächelte, und seine Stimme wurde noch süßlicher als sonst – »so etwas wie Eitelkeit von mir. Sie verstehen, nicht wahr, Herr Pathurst?«
Ich nickte und machte eine ungeduldige Bewegung zum Zeichen, daß ich allein zu sein wünschte, um weiterzulesen.
»Ich kann mich also auf Sie verlassen, Herr Pathurst?« Sein ganzes Wesen veränderte sich. Es war in Wirklichkeit ein Befehl, und ich konnte fast – so schien es mir wenigstens – sehen, wie die Fangzähne des unheimlichen Wesens hinter seinen Augen drohend gefletscht wurden.
»Sicher«, antwortete ich kalt.
»Ich danke Ihnen, Herr… ich danke Ihnen aufrichtig«, sagte er und schlich sich aus meiner Kabine. Selbstverständlich las ich nicht weiter. Wie hätte ich es können? Ich schlief auch nicht. Meine Gedanken irrten umher
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