Midnight Breed 02 - Gefangene des Blutes-neu-ok-10.11.11
und das
herrenlose Auto hinter sich und verschwand zu Fuß in der Nacht.
20
Tess trocknete das Geschirr vom
Abendessen ab und verstaute alles im Schrank neben dem Spülbecken. Als sie die
Tupperdose mit den Resten des Hühnchen Marsala verschloss, spürte sie einen
bohrenden Blick in ihrem Rücken.
„Du willst mich wohl veralbern“,
sagte sie und warf über die Schulter einen Blick auf das winselnde kleine Tier.
„Harvard, bist du etwa immer noch hungrig? Ist dir klar, dass du praktisch
ununterbrochen futterst, seit du hier bist?“
Die buschigen Brauen des
Terriers zuckten über den schokoladenbraunen Augen. Er spitzte die Ohren und
reckte sein Köpfchen in einem bezaubernden Winkel nach oben. Als das nicht
ausreichte, um sie herumzukriegen, neigte er den Kopf schräg in die andere
Richtung und hob eine Pfote in die Luft.
Tess lachte. „Also gut, du
schamloser Charmeur. Du hast gewonnen. Du kriegst noch etwas vom Besten.“
Sie ging rüber und holte den
kleinen, auch nach der zweiten Portion Büchsenfleisch blitzblank ausgeleckten
Napf. Harvard trottete neben ihr her, er folgte jedem ihrer Schritte. Seit sie
sich entschlossen hatte, ihn mit nach Hause zu nehmen, um ein sorgsames Auge
auf ihn zu haben, klebte er an ihrer Seite wie ein neuer, kleiner Schatten.
So etwas hatte sie noch bei
keinem ihrer Patienten getan, allerdings hatte sie auch noch nie ihre Hände
eingesetzt, um einen von ihnen zu heilen. Harvard war etwas Besonderes, und er
schien auch in besonderem Maße an ihr zu hängen, so als wüsste er, dass sie ihn
dem sicheren Tod entrissen hatte. Nachdem er viermal gebadet, etwas gegessen
und ein Flohhalsband verpasst bekommen hatte, war er praktisch ein komplett
neuer Hund. Nach allem, was er durchgemacht hatte, brachte sie es nicht übers
Herz, ihn im Hundezwinger der Klinik zu lassen.
Und nun hatte er beschlossen,
dass sie seine neue beste Freundin war.
„So, das ist für dich“, sie
schnitt ein paar kleine Stückchen gekochtes Huhn ab, die in seinem Napf
landeten. „Versuch mal, dir etwas mehr Zeit zu lassen, okay?“
Während Harvard das Essen
einatmete, stellte Tess die Überbleibsel in den Kühlschrank und schenkte sich
noch ein Glas Chardonnay ein. Dann schlenderte sie ins Wohnzimmer, wo sie eine
Skulptur in Arbeit hatte. Es fühlte sich so gut an, wieder mit Ton zu
hantieren, besonders nach den merkwürdigen letzten Tagen - und Nächten.
Obwohl sie anfangs keine
konkrete Vorstellung gehabt hatte, was für eine Skulptur sie machen wollte, war
sie nicht überrascht, als der Klumpen aus leichtem, braunen Ton begann, eine
vertraute Form anzunehmen. Alles war noch sehr roh. Sie hatte bis jetzt nur die
grobe Andeutung eines Gesichts unter zerzausten Wellen von dichtem Haar
herausmodelliert. Tess nippte an ihrem Wein. Sie wusste, wenn sie jetzt die
Arbeit wieder aufnahm, würde sie wie besessen die ganze Nacht durcharbeiten,
unfähig, sich loszureißen, bis das Stück fertiggestellt war.
Als hätten sie und Harvard heute
noch größere Pläne - also warum nicht?
Tess stellte ihr Weinglas auf
dem Arbeitstisch ab, zog den Hocker heran und nahm Platz. Sie begann das
Gesicht mit einem Modellierhaken auszuformen. Vorsichtig korrigierte sie das
Gefälle der stark ausgeprägten Stirn und der Augenbrauen. Dann überarbeitete
sie die Nase und den präzisen Winkel der Jochbeine. Ihre Finger bewegten sich
wie von selbst, als wäre der Autopilot eingeschaltet. Binnen Kurzem waren ihre
Gedanken völlig losgelöst und folgten eigenen Pfaden, während ihr
Unterbewusstsein ihre Hände führte.
Sie wusste nicht, wie lange sie
schon am Werk war, aber als es unvermittelt heftig an der Tür klopfte, fiel sie
vor Schreck fast vom Stuhl. Harvard, der auf dem Vorleger zu ihren Füßen
schlief, fuhr mit einem Grunzen auf.
„Erwartest du jemanden?“, fragte
sie ihn leise und erhob sich von dem Hocker.
Grundgütiger! Sie musste während
des Formens wirklich weggetreten gewesen sein, denn die Mundpartie war ihr
ziemlich missglückt. Die Lippen kräuselten sich fast wie zu einem Fletschen,
und die Zähne …
Es klopfte erneut, gefolgt von
einer tiefen Stimme, die sie durchfuhr wie ein elektrischer Schlag.
„Tess? Bist du da?“
Dante.
Ihre Augen wurden erst weit,
dann schmal und bestürzt, als sie sich klarmachte, wie sie aussah: Ihr Haar war
nachlässig zu einem Knoten gewurstelt, sie trug keinen BH unter ihrem weißen
Thermo-Shirt, und auf der verblichenen roten Jogginghose trockneten
Weitere Kostenlose Bücher