Midnight Breed 05 - Gefaehrtin der Schatten-neu-ok-15.11.11
hindern.
Sie sah auf
die gebräunten, wettergegerbten Hände hinunter, die so vielen Jugendlichen aus
ihren Schwierigkeiten auf Montreals Straßen geholfen hatten - dieselben Hände,
die seinem Heimatland vor über vierzig Jahren im Krieg gedient hatten und die
nun dieses Spalier voller pinkfarbener Rosen hegten und pflegten, als wären sie
für ihn wertvoller als Gold.
„Was ist
los, Renata? Du weißt, dass du mit mir reden kannst, du kannst mir vertrauen.
Bist du okay?"
„Klar",
sagte sie. „Mir geht's gut, wirklich. Nur auf der Durchreise."
Der Blick in
seinen Augen sagte ihr, dass er ihr das keine Sekunde lang abkaufte.
„Jemand
anderes in Schwierigkeiten?"
Sie
schüttelte den Kopf. „Wie kommst du darauf?"
„Weil das
früher der einzige Grund war, warum du hergekommen bist. Nie für dich selbst,
egal, wie bitter nötig du es gehabt hättest, dass sich jemand um dich
kümmert."
„Das ist was
anderes. Das hier ist nichts, wo du mit reingezogen werden solltest." Sie
startete den Lastwagen.
„Bitte, Jack
... vergiss einfach, dass du mich heute Nacht hier gesehen hast, okay? Tut mir
leid. Ich muss los."
Kaum hatte
sie den Schalthebel gepackt, um den Gang einzulegen, legte sich Jacks starke
Hand auf ihre Schulter. Es war keine feste Berührung, aber selbst der leiseste
Druck auf ihre Wunde brachte sie fast zum Schreien. Sie holte heftig Atem, als
der Schmerz sie durchzuckte wie eine Lanze.
„Du bist
verletzt", sagte er, und seine drahtigen, grauen Augenbrauen zogen sich
abrupt zusammen.
„Es ist
nichts."
„Nichts, von
wegen." Er öffnete die Tür und stieg auf das Trittbrett, um sie besser zu
sehen. Als er das Blut sah, murmelte er einen derben Fluch. „Was ist passiert?
Hat man dich mit dem Messer überfallen? Hat irgend so ein Gangmitglied
versucht, dir den Laster abzunehmen oder deine Ladung? Konntest du schon die
Cops anrufen?
Himmel, das
sieht wie eine Schusswunde aus, und das hat sicher schon eine ganze Weile
geblutet ..."
„Ich bin
okay", beharrte sie. „Es ging nicht um den Laster, und das war überhaupt
alles ganz anders, als du denkst."
„Dann kannst
du's mir erzählen, während ich dich ins Krankenhaus fahre." Er drängte in
die Fahrerkabine und machte ihr ein Zeichen, ihm Platz zu machen. „Rüber mit
dir.
Ich
fahre."
„Jack."
Sie legte die Hand auf seinen mächtigen, ledrigen Unterarm. „Ich kann nicht ins
Krankenhaus und auch nicht zur Polizei. Und ich bin nicht allein. Es ist noch
jemand hinten drin, und er ist auch in schlechter Verfassung. Ich kann ihn
nicht allein lassen."
Er starrte
sie an, unsicher geworden. „Hast du was Illegales gemacht, Renata?"
In ihrem
schwachen Auflachen schwangen so viele Dinge mit, die sie nicht sagen konnte.
Dinge, die er nicht wissen durfte und garantiert auch nicht glauben würde,
selbst wenn sie es ihm erzählte. „Wenn es nur die Polizei wäre, die hinter mir
her ist. Ich bin in Gefahr, Jack. Mehr kann ich dir nicht sagen. Ich will
nicht, dass du da mit reingezogen wirst."
„Du brauchst
Hilfe. Das ist alles, was ich wissen muss."
Sein Gesicht
war jetzt ernst geworden, und hinter den Falten und dem schütter und grau
werdenden Haar erhaschte sie einen Blick auf den unerschütterlichen Marine, der
er vor vielen Jahren gewesen war. „Komm rein, und ich finde für dich und deinen
Freund einen Ort, wo ihr euch eine Weile ausruhen könnt. Und auch was für deine
Schulter. Na los, es ist massig Platz im Haus. Lass mich dir helfen, Renata -
lass dir doch ausnahmsweise mal von irgendwem helfen."
Wie gerne
hätte sie das getan. Der Wunsch danach hatte sich so tief in ihr Innerstes
eingebrannt, dass es schmerzte.
Aber Nikolai
an einen öffentlichen Ort zu bringen war viel zu riskant, für ihn und für
jeden, der ihn möglicherweise sah. „Hast du noch was anderes außer dem Haus? Wo
es ruhig ist, wo weniger Kommen und Gehen herrscht? Es muss nicht groß
sein."
„Über der
Garage hinter dem Haus gibt es noch eine kleine Einliegerwohnung. Ich habe sie
vor allem als Abstellraum genutzt, seit Anna nicht mehr ist, aber du kannst sie
gerne haben." Jack sprang aus der Fahrerkabine und hielt ihr seine Hand
hin, um ihr herunterzuhelfen.
„Sehen wir
zu, dass du und dein Freund ins Haus kommt, damit ich mir diese Wunde ansehen
kann."
Renata stieg
auf den Asphalt hinunter. Wie sollte sie Nikolai bewegen? Er schlief sicher
noch seine durch das Betäubungsmittel verursachte Ohnmacht aus. Umso besser,
das würde verhindern, dass Jack sah,
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