Milchmond (German Edition)
Der Baum erstrahlte im festlichen Glanz der vielen kleinen Lämpchen. Er war mit selbst gebastelten Strohsternen, kleinen Engeln mit goldenen Flügeln und mit vielerlei goldenen Kugeln geschmückt.
Anna-Lena nahm ihren Bruder bei der Hand, und so standen die beiden mit glänzenden Augen vor dem Baum und bestaunten die in buntem Papier eingeschlagenen Geschenke. Johannes klatschte in die Hände. »So, Kinder, jetzt gibt es erst einmal Kaffee und Kuchen. Setzt euch bitte alle!« Nachdem sie sich gesetzt hatten, griffen alle beherzt zu. Es war rührend mit anzusehen, wie Anna-Lena ihren Bruder im Hochstuhl fütterte. Die Bescherung fand im Anschluss daran statt. Anna-Lena sagte vor dem Baum das Gedicht von Knecht Ruprecht auf. Sie machte das sehr gut; langsam und klar sprach sie den Text ohne Aussetzer auswendig auf. Den anschließenden Applaus hatte sie sich redlich verdient. Der Abend verlief traumhaft schön.
Da Johannes zwei Gottesdienste abhielt, einen um achtzehn Uhr und eine Mitternachtsmesse, war die ganze Familie nach der Bescherung mit in die Kirche gegangen. Beide Veranstaltungen waren bis auf den letzten Platz besetzt. Julia freute sich für ihren Bruder, der die Heiligabend-Gottesdienste ganz besonders gern mochte.
Ihre Eltern fuhren vor dem Mitternachtsgottesdienst zurück nach Hamburg. Karen war mit den Kindern im Haus geblieben. Julia und Jörg begleiteten Johannes um Mitternacht noch einmal in die Kirche. Es war sehr feierlich. Danach beschlossen sie zu viert mit einem Glas Wein den Abend vor dem Weihnachtsbaum.
Oben im Gästezimmer, in dem sie sich das erste Mal geliebt hatten, lagen sie noch eine Weile wach, beseelt von dem netten Abend. Karen hatte ordentlich aufgetischt und der Wein war ihnen auch ein bisschen zu Kopfe gestiegen. Gut, dass sie dageblieben waren, dachte Julia. Wie schön die Bescherung der Kinder gewesen war. Der Kleine hatte natürlich noch nicht so viel davon mitbekommen. Er hatte aber die Freude und Aufregung seiner Schwester gespürt und sich sichtlich mitgefreut. »Sag mal, Liebling, hat es dir heute auch so gut gefallen wie mir?«
»Hm, war schön.«
»Anna-Lena war vor Aufregung ganz aus dem Häuschen. Hast du das auch bemerkt?«
»Klar, war ich früher auch, du nicht?«
»Doch, schon. Der Claudius ist aber auch ein Süßer - und wie lieb sich Anna-Lena als große Schwester um ihn kümmert. Ich fand das süß, wie sie ihn im Hochstuhl, wie selbstverständlich, gefüttert hat.«
»Hm«
»Übrigens, weißt du noch? Wir liegen wieder in dem Bett, in dem wir uns das erste Mal geliebt haben.«
»Echt? Wär' ich nicht drauf gekommen!« Er drückte sie bei diesen Worten fester an sich. Sie erlebte wieder das Gefühl der unaufgeregten Geborgenheit - wie damals vor über vier Jahren. Er roch so gut und seine Nähe gab ihr das Gefühl, nichts könne diese Ruhe und Geborgenheit, die sie in seinen Armen überkam, je stören.
»Vielleicht sollten wir uns das auch mal überlegen, Kinder zu machen?« Sie hielt den Atem an. Die Frage war ihr ganz ungezwungen über die Lippen gekommen. Dennoch hatte sie sich das schon im Laufe des Tages fest vorgenommen, an diesem Abend, zu diesem Anlass, in diesem Bett, diese so entscheidende Frage zu stellen.
»Jetzt gleich?« Er hatte keine Sekunde gezögert mit dieser neckischen Bemerkung.
»Blödmann! So habe ich das nicht gemeint.« Sie boxte ihm in die Seite, er stöhnte und gab sich schwer verletzt.
»Luft, Luft, ich bekomm keine Luft...!«
Erschrocken fuhr sie hoch, erkannte dann jedoch seine gestellte Grimasse.
»Du musst mich wiederbeleben, beatmen, los! Sonst erstick ich...«
Zärtlich beugte sie sich über ihren schauspielernden Mann und begann, ihn mit einem langen Kuss wiederzubeleben...
Danach setzte sie die Pille ab. Sie war entschlossen, schwanger zu werden. Anfangs war es für sie beide sehr anregend, sich unter diesem neuen Gesichtspunkt des bewussten Kinderzeugens zu lieben.
Erstaunlich, dieser neue Aspekt, dass eine Schwangerschaft jetzt jederzeit eintreten konnte, ihnen zunächst ein anderes, intensiveres Liebeserlebnis bescherte. Eigentlich hatte Julia erwartet, innerhalb der nächsten paar Monate Erfolg zu haben.
Als im folgenden Herbst noch immer nichts passiert war, entschloss sie sich, Jörg nach Kalender zu verführen. Sie wählte genau die Tage ihres Eisprunges aus, aber das half auch nicht.
Jörg
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