Milchmond (German Edition)
gebracht. Was passierte hier gerade mit ihm? Diese Fremde hatte ihn mit ihrer Frage überrumpelt. Ihr sanftes Lächeln und ihr Blick hatten ihn zum zweiten Mal aus der Fassung gebracht. Wer war sie? Er nahm seinen Mut zusammen und fragte über ihren Scheitel hinweg: »Ist Ihr Kind auch dabei? Wo sitzt es?«
Sie drehte sich nicht um, sondern antwortete über die Schulter hinweg: »Nein, ich stehe auch nur hier herum und genieße den Anblick. Aber jetzt muss ich gehen. War nett, Sie kennen gelernt zu haben.« Als sie sich bei diesen Worten in Bewegung setzte, nickte sie ihm noch einmal lächelnd zu und verschwand in der Menge.
Tobias fuhr sich mit der Hand über die Augen. Was war bloß mit ihm los? Es war ja geradezu lächerlich, welche Wirkung diese Unbekannte auf ihn ausgeübt hatte. Er hatte jeden Tag mit Frauen zu tun; hübschen, hässlichen, alten und jungen. Wieso hatte ausgerechnet diese kurze Begegnung mit der Fremden seinen Herzschlag durcheinander gebracht, sein Denkvermögen beeinträchtigt und ihn seine Sprachgewandtheit vergessen lassen? Zu blöd! Tobias Steinhöfel, du bist ein ausgemachter Narr! Wahrscheinlich leidest du unter Sylvia-Entzug!, tadelte er sich in Gedanken und verließ nun ebenfalls seinen Stehplatz. Hinter sich hörte er erneut das Kreischen der Kinder.
An diesem Nachmittag fand er noch Zeit, sich mit einem Buch bewaffnet, auf eine der Liegewiesen an der Außenalster zu legen. Immer wieder unterbrach er seine Lektüre und genoss den Blick auf die vielen weißen Segel. Auf der Alster herrschte reges Wassersporttreiben. Tobias kam nicht zur Ruhe, denn immer wieder kreisten seine Gedanken um die Frau vor dem Kasperletheater. Sie ging ihm einfach nicht aus dem Kopf.
Er traf als Letzter auf der Grill-Party ein. Während er die Salatschüsseln in den Garten trug, wurde er mit Hallo und Applaus von der Gruppe empfangen. Prof kam ihm entgegen, um ihm die Salate abzunehmen. Tobias holte noch einen weiteren Salat, Meterbrot und einige Utensilien aus dem Wagen. Prof nahm ihm eine Tüte ab.
»Wer ist denn alles da, Prof?«
»Nur Katie mit ihrer Tochter, Katharina und Felix, ein Kollege aus der Bank mit seiner Frau, Freya.«
Nachdem sich die Erwachsenen begrüßt hatten, kamen die Kinder an die Reihe. Eleonora hielt ihm fröhlich den grünen Frosch entgegen, den er ihr vor einigen Monaten geschenkt hatte. »Robert, sag guten Tag zu dem netten Herrn!«, sagte sie mit ernster Stimme zu ihrem Frosch. Der tat, wie ihm geheißen: »Guten Tag, Herr Tobi!« Sie hielt ihm Robert unter die Nase. Tobias hatte einen Einfall.
»Moment! Bin gleich so weit!« Er drehte sich kurz um und griff in seine Tasche. Als er sich nun wieder umwandte, hatte er eine Fingerpuppe übergestreift, die einen Polizisten darstellte.
»Ah, guten Tag, lieber Frosch! Du siehst so grün aus, geht es dir nicht gut?« Tobias Gesicht entgleiste bei diesen Worten zu einer komischen Grimasse. Jetzt war auch die Aufmerksamkeit der anderen beiden Kinder auf gerichtet: Hendrik, der aus vollem Hals lachte und die Kleine von Katie. Wie hatte sie noch geheißen? Richtig, jetzt erinnerte er sich, Katharina. »Hallo Hendrik, hier für dich habe ich den Kasper.« Er zog eine weitere Fingerpuppe hervor. Hendrik griff rasch zu. Die dritte Fingerpuppe, das Krokodil, übergab er Katharina.
»Hi, Katharina, ich bin Tobias, nett dich kennen zu lernen.« Katharina war ein wenig schüchtern, dann aber traute sie sich und gab ihm ihre kleine Hand.
»Hallo«, kam es mit zarter Stimme. Als Tobias ihr das Krokodil schenkte, huschte ein freudiges Lächeln über ihr Gesicht und sie sagte: »Danke«
Die Kinder waren nun beschäftigt. Prof stellte sich, bewaffnet mit der Grillzange, an den heißen Grill. Der Tisch war fertig gedeckt, und Doreen reichte allen etwas zu trinken.
Felix und Freya kannte Tobias noch nicht. Es stellte sich heraus, dass Felix zum technischen Service der Bank gehörte und viel mit Prof und Katie zu tun hatte. Freya war eine große, schlanke, ungeschminkte Frau mit blassem Gesicht. Ihre Stimme war fast nicht zu hören, so leise sprach sie.
Katie gab sich Tobias gegenüber unbefangen, was ihn sehr erleichterte. Im ersten Impuls, als Prof ihm gesagt hatte, dass Katie mit Tochter auch anwesend sein würde, war ihm die Mitteilung unangenehm gewesen. Doch nun entspannte er sich und Katie, die später am Tisch neben ihm saß, war eine lebhafte, gut gelaunte
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