Mimikry
schlimmer noch als seine rutschende Quote wäre sein sinkender Marktanteil. Biggi hatte nie auseinanderhalten können, was Quote und was Marktanteil war, Gabriel schon. Er hatte Angst. Er hatte nur seine Sendung. Er sah nicht gut aus, wenn er Angst hatte, fast wie seine Gäste, so gedrückt und so erbärmlich.
Er sah ihr zu, eine Zigarette zwischen Daumen und Zeigefinger wie ein rotglühender Dolch; in Interviews behauptete er, er rauche nicht. Manchmal vergaß er, daß Biggi für die ganze Firma arbeitete, nicht nur für ihn. Alle waren so, alle wollten alles sofort. Biggi saß in ihrem kleinen Zimmer am Ende des Flurs und tippte und ordnete und heftete alles ab. Sie schrieb die Spesenberichte und wühlte im Archiv herum. Hinter dem Schreibtisch sah man sie nicht, so kam es ihr vor. Die Leute sahen ihren Monitor, ihren Drucker und ihre Hände auf der Tastatur. Die Hände zogen Papier aus dem Drucker, kramten im Archiv, schnitten Zeitungsmeldungen aus, waren schwarz schon am Morgen, wenn sie die Zeitungsausschnitte nacheinander packten, um sie in den Scanner zu legen. Das war ihre Arbeit, sie ließ die Hände laufen. Die anderen hatten nicht viel mit ihr zu reden, vielleicht, weil sie nichts machte. Biggi konzipierte keine Sendung, produzierte keine Sendung, moderierte keine Sendung, sie konnte sich auch nicht so benehmen wie die anderen und hatte nicht deren Auswahl an merkwürdigen Klamotten. Alle duzten sich, Biggi hatte am Anfang Schwierigkeiten damit gehabt. Sie war nicht so locker, sie wußte auch nicht, wie man das wurde, aber manchmal träumte sie, daß sie es war. Einmal hatte Gabriel »Hallo, Fräulein« gerufen und die Leute, die bei ihm gewesen waren, hatten sich kaputtgelacht.
Sie konnte erzählen, daß sie beim Fernsehen arbeitete, zumindest in einer Firma, die für das Fernsehen produzierte, das war ja nicht schlecht. Doch sie wußte nicht, wem sie das erzählen sollte.
Als sie das zerknüllte Papier endlich aus dem Drucker gezogen hatte, riß Gabriel es ihr aus der Hand und warf es in den Papierkorb. »Noch mal«, sagte er, aber darauf wäre sie auch von allein gekommen. Eine Weile sah er wieder zu, was sie machte, dann stützte er die Hände auf ihren Schreibtisch und sah ihr in die Augen, das machte er so, wenn er eine Bitte hatte.
»Hör zu«, sagte er, »bis Anfang der Woche muß ich ein neues Konzept fertig haben.« Er richtete sich auf und seine Finger malten in der Luft herum, kamen kurz zur Ruhe und bewegten sich dann erneut und ohne Ziel, wie bei einem Pianisten, der trocken spielte. Dauernd schrieb er Konzepte für neue Sendungen, sie wurden abgelehnt, er machte neue. Er sagte, er brauche bessere Gäste, doch er hatte gute Gäste, daran konnte es nicht liegen. Ein Mann hatte von drei verpfuschten Selbstmordversuchen berichtet, hatte es dreimal versucht und lebte noch immer. Er hatte sich zur Kamera gedreht, dann zu Gabriel, hatte ihm drei Finger entgegengehalten, dann der Kamera: Seil, Schlaftabletten, Gasherd. Gasherd, der ja eigentlich nicht zählte, weil ungiftig, was er vergessen hatte. Daß die anderen fehlgeschlagen waren, dafür hatte er nichts gekonnt, denn einmal hatte ihn der Hausmeister gerettet, der still wie eine Maus im Keller gewesen war, als er sich aufknüpfen wollte, einmal er sich selbst, weil ihm schlecht wurde, bevor die Tabletten richtig wirken konnten. Gabriel hatte ihn gefragt, welches Gefühl er jetzt habe, wenn er daran denke, und der Mann hatte von vorn begonnen: Seil, Schlaftabletten, Gasherd.
Biggi hatte jede Sendung gesehen. Sie wußte genau, wie Gabriel jemanden tröstete, der vor der Kamera heulte. Sie wußte, in welchem Tonfall er die Leute fragte: »Möchten Sie darüber reden?« und wie er beim letzten Wort die Stimme hob. Diese Leute hockten ja alle da, um darüber zu reden, Leute mit tausend Miseren, die Schlange standen, um die Miseren in Gabriels Show bekanntzugeben, Leute, die fragten: »Kriege ich von der Sendung ein Video?«
»Wäre mir lieb«, sagte Gabriel, »wenn du das Zeug dann Samstag fertig machen würdest.«
»Gut«, sagte Biggi. Sie wollte noch etwas anderes sagen, irgend etwas, was alle sagten. Daß sie etwas vorhatte am Samstag, aber ihr fiel nicht ein, was das sein könnte. Spazierengehen klang dumm, das hatte mit Vorhaben nichts zu tun, da würde er wieder lachen.
»Wirst doch für drei Stunden kommen können.« Gabriel sah sie nicht an.
»Ja«, sagte sie. »Ich kann am Vormittag kommen.«
»Na also.« Er guckte sich jetzt auch
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