Mira und das Buch der Drachen (German Edition)
den Drachen erst, wenn du bei ihr bist!«
Mira wollte etwas sagen, doch ihre Kehle fühlte sich wie zugeschnürt an.
Thaddäus warf ihr einen ernsten Blick zu. »Das, was du zu tun hast, wirst du allein schaffen! Am Ende ist man immer allein.«
Mira schluckte. »Aber was ist mit Rabeus und Miranda! Ich muss sie doch wieder aus der Zeichnung herausholen!«
»Das wird dir nur gelingen, wenn du deinen Auftrag erfüllst! Nimm das Buch und geh einfach durch diese Tür!«
Eine Tür? Mira drehte sich um. Hier war vorher nichts gewesen. Doch da! Hinter der Truhe war im Dämmerlicht ein Durchgang zu sehen. Dass ihr das vorher nicht aufgefallen war!
»Aber was ist mit Ihnen? Wie kommen Sie hier wieder heraus?«
»Oh, es gibt da einen Weg«, sagte Thaddäus und zwinkerte. »Er ist ganz einfach!« Er beugte sich neben Mira über das Buch und blätterte eine Weile in den Seiten herum, bevor er plötzlich vor einer Zeichnung stockte. Es war eine Zeichnung, die Mira schon einmal gesehen hatte, als sie das Buch zum ersten Mal in den Händen hatte. Sie zeigte einen Fisch unter dem Eis, auf dessen glänzender Oberfläche sich kahle Bäume spiegelten. Mira verstand. Es war ein Bild des Weihers. Thaddäus sah auf. Seine Augen strahlten.
»Leb wohl, Mira! Viel Glück«, murmelte er. »Und komm mich einmal besuchen!«
»Das werde ich.« Mira schluckte ihre Tränen hinunter.
Dann, ganz plötzlich, war der alte Zauberer verschwunden. Nur der Fisch in dem Buch bewegte sich. Er warf Mira noch einen letzten Blick aus seinen großen hervorquellenden Augen zu und schwamm dann aus dem Bild.
»Leb wohl, Thaddäus!«, flüsterte Mira.
In diesem Moment löschte ein leichter Luftzug die Kerze. Der Geruch von Wachs und verbranntem Docht stieg Mira in die Nase. Er mischte sich mit dem Geruch von Schnee, der von der Tür am anderen Ende des Raums hereinwehte. Die Tür stand einen Spalt weit offen und der Schnee glitzerte silbern im Mondlicht.
Die längste Nacht des Jahres war angebrochen.
19. Kapitel
in dem Mira ein Gespräch belauscht
Das Waldstück, das zu den Ländereien der schwarzen Hexe gehörte, hatte einiges an eigentümlichen Gewächsen aufzubieten. Da sich kein Förster darum kümmerte, wuchsen die Bäume kreuz und quer. Laubbäume mischten sich unter Tannen, Büsche und Gestrüpp wucherten am Boden, und Efeu und Schlingpflanzen wanden sich um die Stämme und legten sich wie ein Teppich über Baumstümpfe und abgefallene Äste.
In dem Wald befand sich ein alter Pfad, der vor langer Zeit angelegt worden war und zur Ruine eines winzigen Hauses führte. Das Dach hatte der Wind schon vor vielen Jahren fortgetragen und die verfallenen Mauern waren von Moos durchsetzt.
Das Einzige, was nicht recht zu der Ruine passte, war die Tür. Ihr Holz war nicht verwittert, und obwohl sie schief in den Angeln hing, machte sie den Eindruck, als würde sie öfter benutzt werden. Dabei hatte nie einer der wenigen Spaziergänger, die sich hierher verirrten, eine Hand auf die blank geputzte Klinke gelegt. Sie gingen meist achtlos an dem Bauvorbei und fragten sich höchstens, wer einmal dort gewohnt haben mochte.
Tatsächlich aber war die Tür noch nie benutzt worden und die Ruine hatte nie jemandem als Haus gedient. Und es war auch nicht der Wind, der das Dach fortgetragen hatte. Die Ruine hatte nie ein Dach besessen.
Sie war ein Zugang.
In dieser sternenklaren Nacht war von ihr allerdings wenig zu sehen. Der Schnee hatte die Mauern fast ganz zugedeckt. Er fiel sacht auf den Waldboden, als plötzlich langsam die Tür aufging. Zögernd trat Mira über die Schwelle und sank bis zu den Knöcheln in das pulvrige Weiß. Sie blickte erstaunt auf die hohen Bäume, die sie stumm zu begrüßen schienen. Hinter ihr fiel die Tür mit einem leisen, dumpfen Geräusch ins Schloss. Mira drehte sich um und drückte die Klinke, doch der Zugang war versperrt. Es gab keinen Weg zurück.
Sie sah sich um.
Wohin sie wohl gehen musste?
Zwischen den Zweigen der Bäume leuchtete der Vollmond. Er war klein, eine zusammengeballte Kugel, die kaltes blaues Licht aussandte. Schneekristalle blitzten darin auf, sodass es aussah, als wäre der schmale Weg vor ihr mit Silber gepflastert. Mira atmete aus. Ihr entwich ein weißer Lufthauch in der kalten Nacht.
Sie würde einfach diesem Pfad folgen.
Der glitzernde Schnee zu ihren Füßen war ganz unberührt. Manchmal, wenn die Bäume sich über ihr lichteten, versank sie bis zu den Knien in einer Schneewehe; dann, wenn der
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