Mira und das Buch der Drachen (German Edition)
Schnee von den dichten Ästen abgefangen wurde, lief sie auf vereistem Waldboden. Die schneebedeckten Tannenzweige, die von beiden Seiten in den Weg hineinragten, streiften ihrenMantel und nach einer Weile fror sie bitterlich. Wohin hatte Thaddäus sie nur geschickt?
Sie drückte das Buch an sich, doch auch das konnte sie nicht vor der Kälte schützen, die sie immer mehr durchdrang. Bald kroch die eisige Luft auch durch ihre feuchten Schuhe und ließ die Zehen gefrieren. Es war ganz still, bis auf ihren eigenen Atem und ihre Schritte, die im Schnee knirschten. Ach, könnte sie doch nur den Ruf eines Vogels hören! Sie schien das einzige Lebewesen in dieser starren, kalten Welt zu sein.
Nachdem sie eine Weile gegangen war, senkte sich eine bleierne Müdigkeit auf sie. Wie weich und einladend der Schnee am Wegrand aussah! Wie einfach wäre es, sich in dieses glitzernde Meer zu legen und in die Sterne zu blicken. Dann würde sie die Augen schließen und ganz langsam einschlafen! Sie dachte an Thaddäus und den Fisch, in den er sich verwandelt hatte, und konnte ihn mit einem Mal verstehen. Wie schön es sein musste, unter dem Eis zu schwimmen und keine Pflichten mehr zu haben. Keine Aufgaben oder gar Abenteuer, die es zu bestehen galt!
Ach, wäre doch nur das Silbermännchen bei ihr! Es hätte ihr eine Geschichte oder ein Gedicht zur Ermutigung erzählt und sie damit vergessen lassen, wie lang und beschwerlich der Weg war. Doch sie hatte diesmal keine graue Karte in der Tasche. Alles, was sie hatte, war dieses Buch in ihren klammen Händen, das sich anfühlte wie eine erdrückende Last. Warum nur hatten der Drache und Thaddäus ausgerechnet ihr diese Aufgabe übertragen? Sie war nicht einmal eine richtige Hexe. Sie war einfach in dieses Abenteuer gestolpert und weit davon entfernt, es zu bestehen.
Tränen stiegen in ihr auf. Mira schluckte sie hinunter und ballte ihre freie Hand zu einer Faust. Sie musste weitergehen,koste es, was es wolle. Sie nahm das Buch und wollte es gerade unter ihren Mantel stecken, als es ihr aus der Hand glitt und in den Schnee fiel. Vor ihren Augen blätterte sich eine Zeichnung auf. Mira putzte behutsam den Schnee von dem Blatt Papier, um die Zeichnung besser sehen zu können, als sie plötzlich eine seltsame, aber wunderschöne Musik vernahm, die direkt aus der Zeichnung zu kommen schien. Mira staunte. Sie hatte diese Musik schon einmal gehört! Da löste sich mit einem Mal ein Schmetterling aus der Seite. Ein Strahl des kalten Mondlichts traf seine Flügel und ließ sie in einem tiefen Blau schillern. Jetzt fiel Mira auch ein, wo sie dieser Melodie schon einmal gelauscht hatte. Es war bei der schwarzen Hexe gewesen, als sie den gläsernen Briefbeschwerer zerbrochen hatte. Mira lächelte und folgte dem Schmetterling durch den Schnee, bis er plötzlich verschwand. Die zarte Melodie verklang und die Bäume lichteten sich.
Der Waldweg endete hier und mündete in eine breite Straße, die über eine weite schneebedeckte Ebene führte. Ein Auto fuhr an Mira vorbei und sie suchte Schutz hinter einer der Tannen. Schnee rieselte auf sie herab, als sie den roten Rücklichtern des Autos nachblickte. Es fuhr die Straße hinab, geradewegs über den Hügel und hielt dort vor einem großen Gebäude, vor dem schon einige andere Fahrzeuge standen. Durch die kalte Nachtluft waren Stimmen zu hören und das Schlagen von Türen.
Ein seltsameres Gebäude hatte Mira noch nie gesehen. Mit seinen vielen Türmen, Erkern und Portalen glich es eher einer verschachtelten Burg als einem Wohnhaus. In der Mitte schimmerte das runde Dach eines niedrigen Turms im Mondlicht. Es wurde von vielen krummen Säulen gehalten, die aus mehreren übereinandergestapelten runden Steinen bestanden und aussahen wie eine Kette aus flach gedrückten Perlen. Gleich dahinter ragte ein gewaltiger Kegel in die Winternacht. Seine Spitze zierte eine goldene Sternenkugel, deren Strahlen wie die Stacheln eines Igels von ihr abstanden. Jedes der zahllosen Fenster hatte eine andere Form– dreieckig, quadratisch und kreisrund. Und obwohl hinter jedem Fenster ein Licht brannte, machte das Gebäude einen kalten und abweisenden Eindruck. Um das Haus lag ein großer Garten mit alten, schneebedeckten Bäumen, und die ganze Anlage war umgeben von einer hohen, undurchdringlich wirkenden Steinmauer, auf der gekreuzte Rosen zu sehen waren.
Mira atmete tief durch. Das also war der Landsitz der schwarzen Hexe! Das Ziel ihres langen Abenteuers. Doch wie
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