Miss Emergency, Band 4: Miss Emergency , Operation Glücksstern (German Edition)
bin unsicher. Erst wollte ich intuitiv D ankreuzen. Aber die Intuition macht mich misstrauisch, ich werde ja wohl nicht instinktiv richtigliegen, da könnte ja jeder korrekt antworten. Also denke ich noch mal und siehe da: E kommt mir jetzt ebenso wahrscheinlich vor wie D. Nachdem ich noch eine Minute länger nachgedacht habe, erscheint es mir plötzlich ebenso wahrscheinlich, dass auf dem Bild das Fragment eines knöchernen Bandausrisses gezeigt wird. Antwort A.
Das ist ein verbreitetes Phänomen, mein Ratgeber hat davor gewarnt. Ich sehe mich im Raum um, schaue einen Moment aus dem Fenster; ich muss kurz die Frage vergessen. Und dann noch mal neu draufschauen.
Ich lasse den Blick über die Prüflinge wandern – größtenteils konzentriert gebeugte Köpfe, manche kauen Bleistifte, einmal treffe ich sogar auf den versunkenen Blick eines Mitprüflings, der ebenso wie ich, Kopfbefreiung suchend, seine Blicke schweifen lässt (Ich zwinkere ihm kurz zu, wir schaffen das schon, aber er sieht durch mich hindurch). Mein Blick bleibt bei Jenny hängen.
Sie sitzt zurückgelehnt auf ihrem Stuhl und hält den Fragebogen vor sich ein bisschen hoch. Es wirkt selbstvergessen. So, als wolle sie nur etwas entspannter sitzen. Sie betrachtet dieselbe Seite der Bildbeilage wie ich und ist offenbar bei derselben Frage steckengeblieben.
Aber was tut sie mit ihren Fingern? Während ihre linke Hand das Blatt so hält, dass der Daumen genau auf das Bild zeigt, das ich auch nicht deuten kann, bewegt sie die Finger der rechten, als müsse sie die Hand vom Schreiben lockern. Hat sie einen Krampf? Passt das alles nur zufällig zusammen?
Sie wirft einen kurzen Blick in meine Richtung, auch das wie beiläufig. Aber ich kenne sie lange genug. Ich habe den Blick aufgefangen und die Frage darin gesehen. Sie möchte eine Antwort und hofft, dass ich sie ihr irgendwie geben kann. Was die Finger ihrer rechten Hand tun, erklärt sich jetzt auch. Es sieht aus wie Lockerungsübungen, wie sie die Hand Finger für Finger öffnet und schließt. Eins-Zwei-Drei-Vier-Fünf-Vier-Drei-Zwei-Eins. Aber ich verstehe: Sie meint Erstens-Zweitens-Drittens-Viertens-Fünftens. A-B-C-D-E, fragen die Finger. D? C? B? A?
Erschrocken sehe ich mich im Raum um, kann mich gerade so weit beherrschen, dass es wie ein weiterer zufälliger Schweifblick wirkt. Keine der Aufsichtspersonen schaut her. Niemand bemerkt, was Jenny da versucht. Offenbar ist es zu raffiniert. Oder wirklich schon zwei Tische weiter nicht mehr zu erkennen.
Oh Mann, ich WÜRDE ihr helfen! Wenn ich es wüsste! Als sie das nächste Mal in meine Richtung schaut, zucke ich ganz leicht mit der Schulter. Sicherheitshalber nur mit einer. »Ich weiß es nicht«, lege ich in meinen Blick, »es tut mir furchtbar leid. Ich wüsste es auch ZU gern!«
Diesmal funktioniert meine Augensprache. Ohne Untertitel. Jenny nickt unmerklich und schaut dann weiter zu Isa.
Isa versteht. Und kneift die Lippen zusammen.
Sie weiß es. Natürlich. Aber sie wird uns doch nicht helfen?! Und vorsagen?! Mitten in der Prüfung, unter den Augen all dieser Aufsichtspersonen?! Wenn das rauskommt … Auf keinen Fall.
Ich muss noch mal neu denken: Warum wollte ich automatisch D ankreuzen? Ist irgendwo in mir drin eine Ärztin, die es besser weiß? Und sich nicht mit irritierenden Selbstzweifeln wegen zu sicherer Antwortauswahl aufhält?
Nein. Im Moment zumindest nicht.
Aber hier draußen ist eine. Isa lockert die Schultern. Wird sie etwa doch …?
Sie reckt sich ganz kurz. Doch ohne irgendwelche Finger zu zeigen. Wusste ich es doch. Sie WIRD das nicht tun; sie kann es einfach nicht.
Isa fährt sich durch das Gesicht, reibt sich kurz die Augen.
Mit vier Fingern. D.
IHREM Urteil traue ich sofort. Ich weiß, dass SIE es weiß. Die voraussichtliche Jahrgangsbeste. Ich kreuze D an. Und damit ist der Knoten geplatzt und der Rest der Fragen läuft wie von allein.
»Nun ja«, lächelt Isa bescheiden, als wir uns nach der heutigen Abgabe überschwänglich bei ihr bedanken. »Ich dachte: Wenn ich erwischt werde, hab ich ja nächstes Jahr noch einen Versuch…«
Die heutige abendliche Auswertung legt nahe, dass wir schon mal eine riesige Torte für Isa bestellen sollten. Plus Schärpe und Krönchen. Nur falls die Ärztekammer so was nicht stellt. Denn es sieht nicht aus, als stünde noch irgendwas der Ehrungsfeier im Wege; Isa hat wieder sensationell abgeräumt. Wenn das möglich ist, macht es sie heute noch verlegener als gestern. Sie
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