Miss Lonelyhearts
meisten von uns scheint das Leben ein furchtbarer Kampf voller Schmerz und Leid zu sein, bar aller Hoffnung oder Freude. Ach, meine lieben Leserinnen und Leser, es scheint nur so. Auch noch der Ärmste oder Niederste kann sich selber zum Gebrauch seiner Sinne erziehen. Seht den wolkengetüpfelten Himmel, das gischtschäumende Meer … Riecht die süße Kiefer und den berauschenden Liguster … Das Gefühl von Samt und Seide … Wie es in dem beliebten Lied heißt: «Das Beste im Leben ist umsonst.» 28 Das Leben ist …
Er kam nicht weiter und wandte sich wieder der Wüste seiner Vorstellung zu, wo Verzweifelt, Gebrochenes Herz und die anderen immer noch an seinem Namen bastelten. Die Muscheln waren ihnen ausgegangen, und sie benutzten verblichene Fotos, schmutzige Fächer, Fahrpläne, Spielkarten, kaputte Spielsachen, Schmuckimitate – Trödel, den die Erinnerung wertvoll gemacht hatte, viel wertvoller als alles, was das Meer hergeben mochte.
Er machte seinem großen verständnisvollen Herzen durch Lachen den Garaus und langte dann im Papierkorb nach Mrs Doyles Brief. Wie ein rosa Zelt schlug er ihn über der Wüste auf. Vor der dunklen Mahagonitischplatte wirkte das billige Papier üppig fleischfarben.
Er stellte sich Mrs Doyle als ein Zelt vor, haarbedeckt und geädert, und sich selbst als Skelett im Wasserklosett, als den Totenschädel und die gekreuzten Knochen auf dem Exlibris eines Gelehrten. Als er das Skelett in das Fleischzelt eintreten ließ, trieb es an jedem Gelenk Blüten.
Doch trotz seiner Gedanken blieb er so trocken und kalt wie ein polierter Knochen und versuchte einen moralischen Grund zu finden, Mrs Doyle nicht anzurufen. Wenn er nur an Christus glauben könnte, dann wäre Ehebruch eine Sünde, dann wäre alles einfach, und die Briefe wären überaus leicht zu beantworten.
Dass er so vollständig versagte, trieb ihn zum Telefon. Er verließ das Büro der Lokalredaktion und ging auf den Flur, um den Münzapparat zu benutzen, von dem aus alle Privatgespräche geführt werden mussten. Die Wände der Zelle waren mit obszönen Zeichnungen bedeckt. Er heftete seinen Blick auf zwei körperlose Genitalien und gab dem Fräulein vom Amt die Nummer Burgess 7 – 7323 .
«Ist Mrs Doyle da?»
«Hallo, wer ist dort?»
«Ich will mit Mrs Doyle sprechen», sagte er. «Sind Sie Mrs Doyle?»
«Ja, bin ich.» Ihre Stimme war hart vor Angst.
«Hier ist Miss Lonelyhearts.»
«Miss wer?»
«Miss Lonelyhearts, Miss Lonelyhearts, der Mann, der die Kolumne schreibt.»
Er wollte schon einhängen, als sie «Ach so, guten Tag … » gurrte.
«Sie haben geschrieben, ich solle Sie anrufen.»
«Ja doch … was?»
Anscheinend wollte sie ihm das Reden überlassen. «Wann können wir uns treffen?»
«Jetzt gleich.» Sie gurrte noch immer, und fast konnte er durch den Hörer ihren warmen, feuchten Atem spüren.
«Wo?»
«Sagen Sie.»
«Wissen Sie was», sagte er, «wir treffen uns beim Obelisken im Park, in etwa einer Stunde.»
Er ging an seinen Tisch zurück und schrieb seine Kolumne zu Ende, dann machte er sich auf den Weg zum Park.
Er setzte sich auf eine Bank in der Nähe des Obelisken, um auf Mrs Doyle zu warten. In Gedanken immer noch bei den Zelten, musterte er den Himmel und sah, dass er die Farbe einer Zeltbahn hatte und schlecht gespannt war. Er musterte ihn wie ein begriffsstutziger Detektiv, der nach einem Schlüssel für seine eigene Erschöpfung sucht. Als er nichts fand, richtete er seinen geschulten Blick auf die Wolkenkratzer, die den Park von allen Seiten bedrohten. In ihren Massen überwältigten Gesteins und gemarterten Stahls entdeckte er, was er für einen Schlüssel hielt.
Die Amerikaner haben ihre energische Tatkraft in einer Orgie der Steinbrecherei vergeudet. In ein paar Jahren haben sie mehr Steine gebrochen als die Ägypter in Jahrhunderten. Und sie haben ihre Arbeit hysterisch, verzweifelt gemacht, fast als wüssten sie, dass eines Tages die Steine sie brechen würden.
Der Detektiv sah, wie eine große Frau den Park betrat und auf ihn zukam. Er fertigte einen schnellen Katalog an: Beine wie Indianerkeulen, Brüste wie Ballons und eine Stirn wie eine Taube. Trotz ihres kurzen Schottenrocks und roten Pullovers, ihrer Jacke aus Kaninchenfell und ihrer gestrickten Schottenmütze sah sie wie ein Polizeihauptmann aus.
Er wartete, damit sie als Erste sprach.
«Miss Lonelyhearts? Tja, Tag … »
«Mrs Doyle?» Er stand auf und fasste ihren Arm. Er fühlte sich an wie ein
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