Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Miss Lonelyhearts

Miss Lonelyhearts

Titel: Miss Lonelyhearts Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nathanael West
Vom Netzwerk:
festen Griff bekommen wollten, mit dem sie den Boss beeindrucken würden, die Raouls Kopf an ihren vergrößerten Busen betten wollten. Es waren die gleichen Leute, die hilfeheischend an Miss Lonelyhearts schrieben.
    Doch seine Gereiztheit war zu tief, um sie auf diese Art zu besänftigen. Im Augenblick ließen ihn Träume kalt, gleich wie bescheiden sie waren.
    «Mir gefällt dieses Lokal», sagte Mary. «Es ist ein bisschen pseudo, ich weiß, aber es ist lustig, und genau das will ich sein, lustig.»
    Sie dankte ihm, indem sie sich ihm mit einer Reihe förmlicher, unpersönlicher Gesten darbot. Sie trug ein enges, glänzendes Kleid, das wie glasüberzogener Stahl wirkte, und ihre Pantomime hatte etwas steril Mechanisches.
    «Warum willst du lustig sein?»
    «Alle wollen doch lustig sein – wenn sie nicht krank sind.»
    War er krank? In einer großen kalten Welle stürzten die Leser seiner Kolumne über die Musik herein, über die bunten Schultertücher und die pittoresken Kellner, über Marys schimmernden Körper.
    Um sich zu retten, bat er, ihr Medaillon sehen zu dürfen.
    Wie ein kleines Mädchen, das einem alten Mann beim Überqueren der Straße hilft, beugte sie sich zu ihm hinüber, damit er in den Halsausschnitt ihres Kleides blicken könnte.
    Aber ehe er etwas erkennen konnte, trat ein Kellner an ihren Tisch.
    «Um lustig sein zu können, muss man andere lustig machen», sagte Miss Lonelyhearts. «Schlaf mit mir, und gleich bin ich ein lustiger Vogel.»
    Der Defätismus in seiner Stimme machte es ihr leichter, über seine Bitte hinwegzugehen, und ihre Stimmung sank mit seiner. «Ich habe eine schwere Zeit gehabt», sagte sie. «Von Anfang an habe ich eine schwere Zeit gehabt. Als Kind habe ich meine Mutter sterben sehen. Sie hatte Brustkrebs und furchtbare Schmerzen. Sie starb über den Tisch gelehnt.»
    «Schlaf mit mir», sagte er.
    «Nein, wir wollen tanzen.»
    «Ich will nicht. Erzähl mir von deiner Mutter.»
    «Sie starb über den Tisch gelehnt. Die Schmerzen waren so furchtbar, dass sie zum Sterben aus dem Bett kletterte.»
    Mary neigte sich vornüber, um zu zeigen, wie ihre Mutter gestorben war, und er machte noch einen Versuch, das Medaillon zu sehen. Er sah, dass darauf ein Läufer abgebildet war, konnte aber die Inschrift nicht entziffern.
    «Mein Vater war sehr grausam zu ihr», fuhr sie fort. «Er war Porträtmaler, ein Genie, aber … »
    Er hörte nicht mehr zu und versuchte, sein großes verständnisvolles Herz wieder in Gang zu setzen.
    Auch Eltern gehören zum Traumgeschäft. Mein Vater war ein russischer Fürst, mein Vater war ein Paiute-Häuptling, mein Vater war ein australischer Schafbaron, mein Vater hat sein gesamtes Geld an der Wall Street verloren, mein Vater war Porträtmaler. Menschen wie Mary waren außerstande, ohne solche Geschichten auszukommen. Sie erzählten sie, weil sie über etwas anderes sprechen wollten als über Klamotten oder die Geschäfte oder das Kino, weil sie über etwas Poetisches sprechen wollten.
    Als sie mit ihrer Geschichte fertig war, sagte er «Du arme Kleine» und beugte sich nach vorn, um noch einmal einen Blick auf das Medaillon zu werfen. Sie neigte den Kopf, um ihm zu helfen, und zog mit den Fingern den Kragen ihres Kleides heraus. Diesmal konnte er die Inschrift entziffern:
    Von der Lateinschule Boston
    für den ersten Platz
    im 100 -Yard-Lauf.
    Es war ein kleiner Sieg, doch er verstärkte seine Müdigkeit beträchtlich, und er war froh, als sie aufzubrechen vorschlug.
    Im Taxi bat er sie wieder, mit ihm zu schlafen. Sie lehnte ab. Er knetete ihren Körper wie ein Bildhauer, der auf seinen Lehm wütend geworden ist, aber seine Liebkosungen waren viel zu berechnend, und beide blieben sie kalt.
    An ihrer Wohnungstür drehte sie sich um, um einen Kuss zu bekommen, und drückte sich an ihn. Ein Funken entzündete sich in seinen Lenden. Er weigerte sich loszulassen und versuchte, den Funken zu einer Flamme zu schüren. Nach einem langen feuchten Kuss schob sie seinen Mund weg.
    «Hör mal», sagte sie. «Wir dürfen nicht aufhören zu reden. Wir müssen reden. Willie hat bestimmt den Fahrstuhl gehört und lauscht hinter der Tür. Du kennst ihn nicht. Wenn er uns nicht reden hört, weiß er, dass du mich küsst, und macht die Tür auf. Das ist ein alter Trick von ihm.»
    Er hielt sie an sich gedrückt und versuchte verzweifelt, den Funken am Leben zu erhalten.
    «Küss mich nicht auf die Lippen», bat sie. «Ich muss reden.»
    Er küsste ihre Kehle,

Weitere Kostenlose Bücher