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Miss Mary und das geheime Dokument

Titel: Miss Mary und das geheime Dokument Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rose Melikan Stephanie Kramer
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vor ihr lag, war unwägbar und unabänderlich. Deshalb brauchte sie sich davor auch nicht zu fürchten. Angesichts ihrer desolaten Situation ohne Geld, Hab und Gut oder die leiseste Ahnung, wo sie hinsollten, schlug Holland vor, bei einer Person Zuflucht zu erbitten, von der sie nicht das Geringste wussten, abgesehen davon, dass sie Mrs. Tipton hieß. Noch am Vortag wäre so etwas eine unglaubliche Vorstellung gewesen. Jetzt erschien es ihr fast schon vernünftig. Und Captain Holland? Wenn man ihre Bekanntschaft mit normalen Umständen verglich, war er genau genommen auch ein Fremder, obgleich sie bereits etwas sehr Persönliches verband. Fast war es schon, als ob … Nun, sie war sich nicht sicher, ob sie diesen Vergleich zu Ende führen wollte.
    Besser ließ sie ihre Gedanken über weniger verwirrende Dinge schweifen und merkte an, der Gaul benehme sich wirklich ganz ordentlich, wenn man sich einmal an ihn gewöhnt hatte. Aber sicher bissen Pferde nicht ständig oder trampelten einen zu Boden, außer im Ausnahmezustand. Ganz unvorstellbar sei es beispielsweise, dass das Pferd, das man bei Mrs. Bunbury vor den Wagen spannte, nicht gehorchte, aber es war auch schon betagt. Alle nannten den Gaul Old Niggle - Alter Nörgler -, weil er ständig ein Gebrechen hatte, doch eigentlich hieß er Ajax.
    Glücklicherweise konnte Mary Hollands Gesicht nicht sehen, während sie ihm dies erzählte, und selbst als er sie fragte, ob sie schon jemals mit diesem mächtigen Schlachtross gefahren worden sei, verriet sein Tonfall nichts.
    »Einmal, als wir zu einem Konzert für Alte Musik nach Cambridge fuhren, aber für gewöhnlich wird der Wagen nur für Schulbelange benützt. Mrs. Bunbury sagt, wir könnten seine Knie nicht für reine Vergnügungsfahrten aufs Spiel setzen. Warum es gerade an den Knien liegt, weiß ich nicht. Einmal hatte das Pferd einen merkwürdigen, sehr lauten Husten, daran erinnere ich mich noch. Wenn es heiß ist, bekommt es manchmal einen Hut auf und …«
    »Einen Hut ?«, fragte Holland nach und vermochte seine Heiterkeit nun nicht länger zu unterdrücken.
    »Ja, einen Strohhut gegen die Sonne. Mr. Taft - Mrs. Taft ist die Haushälterin, und ihr Mann macht alle möglichen Arbeiten, wie den Wagen fahren - hat für Niggle einen Hut fabriziert. Der tut ihm bestimmt gut, aber«, fügte sie hinzu und musste dabei genau wie Holland lachen, »er sieht damit unmöglich aus, und ich bin überzeugt, das weiß er auch, der arme Kerl. Manche Tiere sind schnell verlegen, müssen Sie wissen. Wie Hunde … und eben auch Pferde, vermute ich.«
    »Vermute ich auch«, stimmte Holland ihr zu.
    Als sie ein morastiges Stück offene Heidelandschaft durchquerten, verlangsamte sich ihre Geschwindigkeit. Ein- oder zweimal schaute Holland hinter sich, doch auch wenn er etwas Unheilbringendes gehört haben sollte, ließ er es sich nicht anmerken, denn er behielt das ruhige Tempo bei. Mary kam sich vor wie in einem absurden Traum, aber es ging einfach immer so weiter: durch Tunnel, zu Fuß oder auf dem Pferd. Selbst Niggles Hut schien Teil einer anderen Welt zu sein. Sie überlegte, ob sie Captain Holland von diesem merkwürdigen Gefühl der Hilflosigkeit etwas sagen sollte, dachte dann aber, er würde sicherlich entgegnen, sie seien überhaupt nicht hilflos, und weiter nachfragen, was genau sie damit meine. Stattdessen schaute sie empor zu den Sternen, die wie glitzernde Leuchtkörper hinter den Wolken zum Vorschein kamen. Sie schienen ganz weit weg zu sein, genau wie die Normalität und der Alltag. Sie fragte sich, woher Holland wohl wusste, wohin sie ritten. Matrosen orientierten sich an den Sternen, Soldaten vielleicht auch, wenn sie bei Nacht marschierten, was sicherlich zuweilen vorkam. Ob er gekränkt wäre, wenn sie ihn nochmals fragte, wo sie sich gerade befanden?
    Auf Hollands Befehl hin kam das Pferd jäh zum Stehen, und Mary wunderte sich einen Moment lang, ob sie ihre letzte Frage doch laut geäußert hatte. Dann schoss ihr ein alarmierenderer Grund durch den Kopf, und sie setzte sich besorgt aufrecht hin. »Was ist passiert?«, flüsterte sie. »Kommt da jemand?«
    »Nein, ich orientiere mich nur gerade. Ich glaube, es ist nicht mehr weit.«
    Mittlerweile kamen sie immer besser voran, denn Morast und Grasbüschel wurden von Wiesen abgelöst und später dann von einem Stoppelfeld. Sie folgten einer Hecke, und in einer Lücke ritten sie auf die andere Seite auf einen Weg. Dieser brachte sie zu einem großen Fachwerkbau.

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