Mission Munroe 03 - Die Geisel
wie rücksichtslosen Blicke auf Munroes Oberkörper gerichtet. »Es kann eine Weile dauern«, sagte sie. Munroe winkte nur gleichgültig ab.
Nachdem Neeva sich im Badezimmer eingeschlossen hatte und Munroe kein staunendes Publikum und auch kein Licht mehr hatte, zog sie ebenfalls alles aus, was sie beim Puppenmacher bekommen hatte. Anschließend schlüpfte sie in die Sachen, die sie sich gekauft hatte: Stiefel, eine schwarze Cargohose und ein schwarzes Mieder, dazu die Jacke, die noch aus Dallas stammte. Solange sie den Reißverschluss geschlossen hielt, war das Outfit vielleicht nicht gerade androgyn zu nennen, aber doch zumindest nicht eindeutig einem Geschlecht zuzuordnen. Dadurch gestattete es ihr eine gewisse Flexibilität, wenn sie sich wieder auf den Weg machen mussten. Aber im Augenblick war die Rückkehr zu einem weiblichen Erscheinungsbild die bessere Wahl. Schließlich war sie auf jeder Kamera, die im Verlauf der letzten achtundvierzig Stunden Aufnahmen von ihr gemacht hatte, als Mann zu sehen.
Kleidung, Frisur, Schuhe, Accessoires, das alles waren Requisiten, visuelle Fingerzeige, die die Menschen benutzten, um Informationen zu filtern und Einschätzungen vorzunehmen, um ihre Mitmenschen in Kategorien einzuteilen. Und hinter diesen sichtbaren Requisiten kamen die Gerüche und die Laute und, was noch wichtiger war, ein ungreifbares Gefühl für die Nuancen der Körpersprache, mit dem sich erfassen ließ, was die anderen Sinne nicht direkt erfassen konnten. Hinweise, die sich zu einem Bild zusammenfügten, das die Wahrnehmung an die jeweiligen Erwartungen anpasste, und das, mit Hilfe einiger weniger Korrekturen, an den Wächtern des Geistes vorbeihuschte und es Munroe dadurch gestattete, alles das zu werden, was sie werden musste.
Der Wasserhahn im Bad lief lange, und Neevas Waschgeräusche drangen klar und deutlich unter der Tür hervor. Munroe holte das Taschenmesser aus dem Beutel, setzte sich auf den Bettrahmen, klappte das Messer auf und starrte ihre Hände an. Dieses Messer wurde, wie jedes andere Messer auch, in ihren Händen zu einem lebendigen Wesen. Und wie immer, wenn die Stimmen wach waren und die Dunkelheit an ihrem Verstand nagte, flehte auch dieses Messer sie an, eingesetzt zu werden. Nicht an ihren Schuhsohlen – denn genau das tat sie gerade, so lange, bis die Absätze nachgaben –, sondern an denjenigen, die ihr all diese Qualen verursachten. Es wollte sich tief in menschliches Fleisch bohren, wollte die Verursacher des Leids ebenfalls leiden lassen.
Munroe klappte das Messer wieder zusammen und steckte es in die Tasche.
In den kleinen Höhlen unter den Absätzen ihrer Schuhe entdeckte Munroe je einen Peilsender. Sie holte sie heraus und nahm sie in die Hand. Nahm ein Blatt Papier vom Schreibtisch und faltete es zu einem improvisierten Umschlag zusammen. Steckte die Peilsender hinein und stopfte den Umschlag in eine Tasche. Das waren die letzten. Sobald sie sie losgeworden war, konnten sie und Neeva tatsächlich verschwinden. Das musste Lumani klar sein. Er musste den Druck spüren. Selbst wenn er davon ausging, dass dieser Hotelaufenthalt ein Trick war, oder, um es passend zu dem Schachspiel auszudrücken, das sich in ihrem Kopf abspielte: eine Finte , ein Zug, mit dem eine Figur absichtlich in eine schlechte Position gebracht wurde, er musste dennoch handeln. Er hatte keine andere Wahl. Die Frage war nicht, ob er kommen würde, sondern wann.
Das Wasser im Badezimmer lief immer noch, also legte Munroe sich auf den Boden neben die aufgestellte Matratze. Kaum befand ihr Körper sich in der Horizontalen, setzte die Erschöpfung ein, legte sich wie eine dicke Decke über sie und drohte, sie gegen ihren Willen in den Schlaf zu schicken.
Sie holte das Handy aus ihrer Tasche und wählte Bradfords Nummer. Sie hatte es ihm versprochen. In den wenigen Sekunden, während es klingelte, klappten ihre Augen zu und öffneten sich nur widerwillig, als er sich meldete.
»Wie geht es dir?«, sagte er, und in seiner Stimme lag dieselbe ausgelaugte Müdigkeit, die auch sie empfand.
»Alles in Ordnung.«
Fragen nach Alexis, nach Logan und Samantha lagen ihr auf der Zunge, doch sie jetzt zu stellen würde Bradfords Last nur noch schwerer machen, darum ließ sie es sein. Stattdessen sagte sie: »Ich habe wieder ein Foto von Alexis bekommen. Sie liegt auf einem Betonboden, in einem ziemlich großen Raum.«
»Wie lange ist das her?«
»Ein paar Stunden, aber ich weiß natürlich nicht, wann es
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