Mission Munroe 03 - Die Geisel
gerichtet.
Neeva neigte sich ein wenig zur Seite und ließ den Kopf an Munroes Schulter sinken. »Ich mag dich, Michael«, sagte sie, »auch wenn du dich manchmal selbst nicht besonders gut leiden kannst.«
Munroe beugte sich mit einem Lächeln nach vorn und gab Neeva einen Kuss auf die Glatze. »Danke«, sagte sie, und nach einer kurzen Pause: »Was ist eigentlich aus dem geworden, der dich misshandelt hat?«
»Das weiß niemand«, erwiderte Neeva. »Er ist spurlos verschwunden.«
In diesem Augenblick wurde Munroe klar, weshalb Neeva nicht in der Sicherheit des Konsulats hatte bleiben wollen. Ihr Angebot, sich als Köder zu opfern, war mehr als nur ein Tauschhandel – ein Leben gegen viele. Neeva hatte ein Trauma erlitten, und jetzt wollte sie auf keinen Fall noch einmal das Opfer sein. Sie nahm Rache, indem sie eine aktive Rolle spielte. Munroe legte ihre Wange auf die glatte Stelle, die sie soeben geküsst hatte.
»Woher weißt du eigentlich so viel über den Mann mit dem Hund?«, fragte Neeva. »Wer ist er, und was hat er vor?«
»Ich weiß nicht, wer er ist«, sagte Munroe. »Ich weiß nur, wofür er steht.«
»Dann hast du also nur spekuliert?«
Munroe zuckte kurz mit der Schulter, damit Neeva den Kopf wegnahm, und legte ihre Hände mit gespreizten Fingern auf ihren Bauch. »Ich habe die Narben hier. Der Mann mit dem Hund ist nichts weiter als eine andere Version des Irren mit dem Messer.« Sie wandte sich zu Neeva. »Er hat Geld für deine Entführung bezahlt und will dich als Sklavin halten. Spielt das Wieso und das Weshalb da noch eine Rolle?«
»Nein, eigentlich nicht«, erwiderte Neeva. »Ich meine, in Bezug auf die körperlichen Schmerzen und die Mordgedanken, da schon. Aber Leute wie dieser Puppen-Typ, der Frauen verkauft, oder der Hunde-Typ, der sie ihm abkauft, oder andere Typen, die zum Beispiel Frauen vergewaltigen oder – auch wenn sie vielleicht nicht ganz so weit gehen und Gewalt anwenden – Frauen nicht wie Menschen, sondern wie Objekte behandeln – na klar, da gibt es einen Unterschied, was die Schwere des Verbrechens angeht, aber im Prinzip ist das doch alles das Gleiche. Die Frauen werden zu einer Art Leinwand gemacht, auf die die Typen ihren emotionalen Ballast schleudern, so Jackson-Pollock-mäßig.«
Munroe meinte: »Das sind aber ganz schön große Gedanken für so eine zierliche Person wie dich.«
Neevas Miene verfinsterte sich. Sie machte den Mund zu und dann wieder auf. »War das ein Witz?«
Munroe schnipste mit dem Finger gegen ihre Nase. »Ja«, sagte sie. »Das nennt man trockenen Humor. Solltest du irgendwann auch mal probieren.«
Neeva lächelte. Ließ sich wieder gegen die Wand sinken. »Diese Geschichte mit dem Puppen-Typ ist einfach nur eine extreme Form meines Alltags«, sagte sie. »Männer glauben, dass ich das will, was sie wollen, und projizieren ihre Wünsche auf mich. Und wenn ich nicht so reagiere, wie sie sich das vorgestellt haben, beschimpfen und verfluchen sie mich, als hätte ich sie persönlich angegriffen. Als hätten sie das Recht , das zu bekommen, was sie wollen. Der Puppen-Typ und der Hunde-Typ und der Vergewaltiger-Typ, die gefährlichen Typen, die gehen eben nur einen Schritt weiter und nehmen sich einfach, was sie wollen. Und dann geben sie dir und deinem Aussehen die Schuld daran. Aber noch schlimmer ist, dass die Gesellschaft es oft genug genauso macht.«
Munroe legte ihr den Arm um die Schulter, damit sie sich wieder anlehnen konnte. »Du bist noch viel zu jung und zu unschuldig, um solche Dinge verstehen zu müssen«, sagte sie.
»So unschuldig, wie du denkst, bin ich nicht.«
»Und offensichtlich auch nicht so naiv.«
Neeva nahm den Kopf von Munroes Schulter und setzte sich auf die Knie, die Hände auf die Oberschenkel gestützt, mit einem breiten Lächeln und fröhlichen Augen. Dann stieß sie die Faust in die Luft und flüsterte: »Jaaaa.«
Ihr Lächeln und ihre Freude waren so ansteckend, dass Munroe trotz der bedrückenden Umstände nicht anders konnte, als ebenfalls zu lächeln – und ebenso schnell wieder ernst zu werden, nachdem sie ein fast unhörbares Pochen an der Türklinke wahrgenommen hatte. Nicht so, als hätte jemand versucht, die Tür zu öffnen, eher so, als sei das Holz von außen sanft gestreift worden.
Munroe streckte die Hand nach der Waffe auf dem Fußboden aus. Ihr Instinkt drängte sie, sofort das Magazin leer zu schießen und dann dem Gegner nachzujagen, aber das Holz und der Stein, die sie beschützten,
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