Mission Munroe 03 - Die Geisel
blickte schweigend zu Boden, als würde sie überlegen, wo sie diese Ländernamen schon einmal gehört hatte. Dann sagte sie: »Die Entführer haben mich in ein Kriegsgebiet gebracht?«
Munroe schüttelte den Kopf. Slowenien und Kroatien waren Teile des ehemaligen Jugoslawien, aber Kroatien war den meisten Amerikanern sehr viel vertrauter, als Slowenien es jemals sein würde. In ihrer Vorstellung war der Name des Landes immer noch eng mit den Zerstörungen der Neunzigerjahre verbunden, ebenso mit den Völkermorden und den fürchterlichen Grausamkeiten in Bosnien und Herzegowina.
Neeva war zu jung, um von sich aus dieses Bewusstsein zu haben. Vielleicht war das ja ihren politisch denkenden Eltern zu verdanken. Aber so oder so, für eine Geografiestunde war jetzt keine Zeit, schon gar nicht für eine Geschichtsstunde mit Schwerpunkt auf den diversen Jugoslawien-Kriegen. »Es ist kein Kriegsgebiet«, sagte Munroe. »Schon seit fast zwanzig Jahren nicht mehr. Steh bitte auf.«
Neeva blieb sitzen. »Wir überqueren eine Grenze?«
»Ja.«
»Hast du meinen Reisepass dabei?«
»Das spielt wirklich keine Rolle, findest du nicht auch?« Und dann wiederholte sie ihre Bitte. »Bitte steh auf, Neeva.«
Neeva nickte. Stand auf. Trat von der Matratze herunter. Munroes innerer Alarm schrillte noch ein bisschen lauter. Sie löste eine Ecke des Paketbandes von der Rolle und zog daran. »Streck beide Hände aus.«
Das Mädchen tat, was Munroe gesagt hatte. Sie streckte die Hände nach vorn, die Finger zu lockeren Fäusten geballt. Munroe trat auf sie zu, nahm Neevas rechtes Handgelenk in die linke Hand, spürte kein Kribbeln, kein einziges Warnsignal. Sie beugte sich noch etwas dichter heran, wollte das Paketband auf Neevas Haut festkleben. In diesem Augenblick kam Neevas Faust auf Munroes Augen zugeflogen. Ein scharfkantiges Stück Metall ragte daraus hervor.
Munroe zuckte zurück.
Die improvisierte Klinge sauste um Haaresbreite an ihrem Kieferknochen vorbei. Zischte durch die Luft und kam zurück, zielte auf ihre Wange. Doch dann, genauso schnell wie der Vorstoß gekommen war, lag Neeva auf dem Rücken, rang um Atem, versuchte zu schreien, und Munroe, die auf ihr saß, starrte auf ihre eigenen Hände, die sich fest um Neevas Kehle geschlossen hatten.
Langsam, unter Aufbietung aller Willenskräfte, gab Munroe Neevas Luftröhre frei, während jede Nervenzelle, jeder Urinstinkt sie kreischend dazu aufforderte, die Tat abzuschließen, das Töten zu vollenden.
Munroe hielt sich zurück.
Sie wand Neeva das sieben Zentimeter lange Metallstück aus der Hand und betrachtete das Ding, das offensichtlich einmal Teil eines Bettgestells gewesen war, desinteressiert. »Der Letzte, der das versucht hat, ist tot«, sagte sie.
Munroe steckte das Metallstück ein, ließ Neeva los und stand auf. Während das Mädchen auf dem Rücken lag und mit ihren Tränen die Matratze benetzte, wickelte Munroe ihr das Klebeband in Form einer Acht so fest um beide Handgelenke, dass sie sich nicht daraus würde befreien können.
Dann packte sie den festen Klebeband-Steg zwischen Neevas Händen und zog das Mädchen auf die Füße, während vor ihrem geistigen Auge unentwegt die blitzschnellen Ereignisse dieser wenigen Sekunden abliefen, auf der Suche nach der passenden Stelle für dieses eine Puzzleteil, das sie nirgendwo unterbringen konnte. Neevas Attacke war, wie der vorangegangene Kampf, nicht etwa aus blinder Panik oder infolge eines Adrenalinschubs erfolgt. Sie war mehr als nur eine junge Frau, die verzweifelt um ihr Leben kämpfte. Neeva hatte ihren Körper unter Kontrolle, und zwar mit einer Sicherheit, wie man sie nur durch jahrelanges Training erreichen konnte. Vielleicht hatte sie sogar eine Zeitlang professionellen Kampfsport betrieben. Im richtigen Leben jedoch – dort, wo Instinkt und Geschwindigkeit und die Fähigkeit, dem Gegner gedanklich einen Schritt voraus zu sein, darüber entschieden, ob man die Klinge eines Sadisten zu spüren bekam oder nicht – konnte sie nicht allzu viele ernsthafte Erfahrungen gesammelt haben.
»Ich habe dich gewarnt, dass du dich nicht mit mir anlegen solltest«, sagte Munroe. »Ich will dir zwar nicht weh tun, aber ich tue es trotzdem. Du hättest besser zuhören sollen.«
Statt einer Antwort nickte Neeva nur. Munroe tastete sie ab, schob die Hände unter ihre Kleidung, fuhr die Säume entlang, voller Wut und Ärger. Sie hätte die Attacke kommen sehen müssen, aber dann hatte sie ihr ungutes Gefühl
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