Mission Munroe 03 - Die Geisel
das fügte dem Chaos eine weitere Dimension hinzu.
Das Puppenmädchen stolperte und stürzte auf die Terrasse. Dabei riss es einen Tisch mit sich. Die Frau namens Michael war direkt neben ihm, schnell genug, um es aufzufangen und zu verhindern, dass es komplett zu Boden ging.
Die Fahrerin nahm die Ware in die Arme, hielt sie fest, obwohl sie sich wehrte und um sich schlug, und dann sprach sie zu den Menschen auf der Terrasse, klar und verständlich und ruhig, trotz des kreischenden Mädchens. Das Publikum, das zunächst erstarrt und vollkommen entsetzt gewesen war, begann langsam aufzutauen. Die Gesichter wurden weicher. Münder bewegten sich. Ein paar der Anwesenden hatten sie verstanden und übersetzten nun für die anderen.
Man rückte beiseite, machte Platz. Jemand brachte eine Flasche Wasser.
Das Puppenmädchen schlug immer noch wie wild um sich und brüllte und flehte auf Englisch um Hilfe, so laut, dass Lumani seine Schreie sogar ohne Wanze hören konnte, selbst aus dieser Entfernung. Die Worte selbst waren nicht zu verstehen, aber der Klang hallte zwischen den Häuserwänden wider und wurde, da es ansonsten relativ still war, weit getragen. Die Frau namens Michael beugte sich jetzt nach vorn und legte die Lippen an das Ohr des Puppenmädchens. Nach wenigen Sekunden hörte es auf, um sich zu schlagen, und auch seine Schreie verstummten. Sie strich dem Puppenmädchen über die Haare, hielt es fest an sich gedrückt, flüsternd und tröstend. Bot ihm ein Glas Wasser an, das ihr irgendjemand gereicht hatte, und half dem Puppenmädchen dann langsam und vorsichtig, unter den Blicken der versammelten Gäste, auf die Beine und führte es weg.
Diese klare, eindeutige Perfektion inmitten des Chaos fachte Lumanis Nervosität erneut an. Er fing am ganzen Körper an zu schwitzen und spürte, wie sich ein neues Gefühl in seinem Geist und seinen Eingeweiden ausbreitete, eine zweite Schicht aus Furcht und Hoffnung: Er wollte unbedingt erfahren, mit welchen Worten die Frau namens Michael das Feuer unter Kontrolle gebracht hatte.
Mit gierigen Zügen holte er Luft, und erst jetzt wurde ihm bewusst, dass er, fasziniert von der Magie des Gesehenen, den Atem angehalten hatte. Mit der Luft drang auch der modrige, erdige Geruch der nur wenige Zentimeter entfernten, alten Lehmziegel in seine Nase. Es war ein unverwechselbarer Duft, der mit anderen Dächern und glücklicheren Erinnerungen zusammenhing – falls Erinnerungen jemals glücklich sein konnten –, mit Zeiten, als er unbeschwert und frei durch die Straßen von Dubrovnik geschlendert war. Freizeit – etwas ganz Besonderes in einer Kindheit, die er normalerweise in der Obhut wechselnder Ausbilder verbrachte und die ihm als großer Zufall in den Schoß gefallen war. Sein Onkel wollte ihn aus irgendeinem Grund nicht in der Nähe haben und hatte ihn deshalb bei einem Bekannten untergebracht, der sich nicht weiter darum geschert hatte, was er mit seiner Zeit anstellte.
In der Dunkelheit der frühen Morgenstunden, nachdem die allabendliche Sommerparty in der Stadt endlich zur Ruhe gekommen war, war er mit den älteren Jungen durch die Straßen gelaufen. Sie hatten die altehrwürdigen Mauern der auf einem Küstenfelsen thronenden Festung Lovrijenac erklommen, waren über Häuserdächer gesprungen, um in den Innenhof des Franziskanerklosters zu gelangen und verbotene Früchte zu pflücken. Lumani war jünger und kleiner als die anderen, aber sie nahmen ihn mit, weil er auch schneller und flinker war als sie. Sie gaben ihm den liebevollen Spitznamen »Shipak«, Granatapfel. Teenagerhumor auf Kroatisch, eine Anspielung auf das Wort »Shiptari«, mit dem die Albaner sich selbst bezeichneten. Lumani, der vollkommen außer sich vor Freude darüber war, dass er akzeptiert wurde, dass sie ihm sogar ein Etikett verpasst hatten – ein Zeichen der Zugehörigkeit –, ob es nun richtig war oder nicht, hatte sich niemals die Mühe gemacht, sie zu korrigieren.
Noch später dann, wenn sogar die anderen Teenager ins Bett gegangen waren, war Lumani eins geworden mit den engen Gassen, war wie eine der vielen Wildkatzen, die in der Stadt lebten, umhergestreunt, hatte in Fenster gelinst, um das Leben von Kleinfamilien zu beobachten, und manchmal war er auch von Stein zu Stein in höhere Stockwerke geklettert und hatte dort etwas gestohlen. Während dieser zwei Monate hatte er zum ersten und einzigen Mal erlebt, was es bedeutete, Kind zu sein. Aber bereits damals, im Alter von neun Jahren
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