Mission Munroe. Die Sekte
besucht hatte, war immer noch frisch und legte sich wie zwei riesige Hände um ihren Hals, die ihr die Luft abschnürten. Sie hatte das Gefühl, als müsste sie jeden Augenblick ersticken.
Eigentlich war es nicht gestattet, Fragen zu stellen, aber
die Angst war stärker, weswegen sie ohne nachzudenken hervorplatzte: »Muss ich dann auch wieder bei der Liebe des Herrn mitmachen?«
Die Antwort auf ihre Frage bestand in Schweigen.
Sunshines Miene verfinsterte sich. Hannah kannte diesen Blick. So schauten Erwachsene, wenn sie überlegten, wie sie aus einer kniffligen Situation herauskommen sollten. Aber viel mehr Angst machte ihr Elijahs Gesichtsausdruck. Er sah vollkommen verwirrt aus, als hätte er nicht die leiseste Ahnung, wovon Hannah redete.
Das bedeutete zweierlei. Erstens, dass Rachel sie womöglich doch nicht verpetzt hatte. Vielleicht hatte sie ihren Ärger ja irgendeinem anderen Ungehorsam zu verdanken. Und zweitens – was noch viel schlimmer war –, dass Sunshine über Elijah stand, obwohl sie in dieser Oase hier lebte. Und das konnte nur eines zu bedeuten haben: Sie war direkt dem PROPHETEN unterstellt. Wenn Hannah also in Sunshines Begleitung die Oase verließ, dann war sie praktisch Sunshines Besitz. Niemand würde sich jemandem in den Weg stellen, der unmittelbar dem PROPHETEN unterstellt war.
Von Angst überwältigt kämpfte Hannah gegen die Tränen an. Sie war noch hilfloser als hilflos. Sie wollte die Oase nicht verlassen. Sie wollte nicht allein mit Sunshine weggehen. Wenn doch bloß ihr Dad hier wäre! Dann könnte sie ihn wenigstens bitten, ein gutes Wort für sie einzulegen, zu vermitteln oder Sunshines Platz einzunehmen. Mit ihrer Mom konnte sie so etwas niemals machen. Ihre Mom würde nur sagen, dass sie duldsam und gehorsam sein sollte.
Nachdem ihr all das schlagartig klar geworden war, suchte Hannah verzweifelt nach einer Möglichkeit, um Sunshine zu besänftigen und freundlich zu stimmen. Schließlich
würde diese Frau ab heute oder morgen die absolute Kontrolle über ihr Leben haben. Irgendwie musste es doch möglich sein, die Frage wieder zurückzunehmen, doch da ergriff Sunshine bereits das Wort.
»Oh, Liebes«, sagte sie, »nichts dergleichen. Wir gehen für ein paar Wochen in ein Hotel, nur um uns zu verstecken und dich zu beschützen, weil der Herr und der PROPHET uns befohlen haben, dass wir uns auf Razzien gefasst machen sollen, mehr nicht.«
Hannah nickte. Sie wollte es glauben. Sunshine würde nicht lügen, oder? Die Menschen in der LEERE , die konnte man anlügen, aber die ERWÄHLTEN logen niemals andere ERWÄHLTE an. Wenn die Erwachsenen einem etwas nicht sagen wollten, wurde man eben getadelt, weil man gefragt hatte. Aber vielleicht war es dieses Mal etwas anderes? Vielleicht log Sunshine wegen Elijah. Es war jedenfalls vollkommen offensichtlich, dass Elijah nichts davon wissen sollte. Ob Erwachsene Erwachsene anlügen konnten?
Elijah räusperte sich, als ob das Thema für ihn erledigt wäre und er sich dem nächsten Punkt zuwenden wollte. Hannah verkrampfte sich.
Er sagte: »Dir ist aber klar, Süße, dass dieser Umzug nichts daran ändert, dass du deine Lektionen lernen musst, oder? Wir machen uns immer noch große Sorgen um deine geistliche Gesundheit. Einige Berichte, die ich in den letzten Tagen erhalten haben, lassen vermuten, dass du dem Satan immer noch einen Platz in deinem Leben bietest.«
Hannah sagte kein Wort. Was auch immer sie dieses Mal getan haben mochte, sie war sich nicht der geringsten Schuld bewusst. Vielleicht war ihr die Verwirrung anzusehen, vielleicht spiegelte sich auch die reine Unschuld auf ihrer Miene, jedenfalls fuhr Elijah fort:
»Viele haben einen Schatten auf deinem Antlitz bemerkt«, sagte er. »Aber wer vom Geist des Herrn komplett durchdrungen ist, dem sieht man es auch an. Du hast das Licht Jesu in letzter Zeit nicht durch dich scheinen lassen. Du musst mehr lächeln, Hannah, und den anderen zeigen, dass Jesus in dir ist.«
Hannah nickte. In letzter Zeit hatte sie nicht viel Anlass zum Lächeln gehabt, aber das war auf keinen Fall ein Grund oder eine Rechtfertigung dafür, einen Schatten auf ihrem Antlitz zuzulassen. Ganz egal, wie traurig man war, man durfte es nicht zeigen. Es war immens wichtig, dass man immer lächelte und das Licht Jesu durch sich scheinen ließ. In den letzten Tagen jedoch war sie so sehr mit all den Dingen beschäftigt gewesen, die ihr auf dem Herzen lagen, dass sie sich nicht darum gekümmert hatte, wie
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