Mission Munroe. Die Sekte
guter Tag zum Toilettenputzen gewesen.
Es wäre Ungehorsam gewesen, ihr zu erzählen, was passiert war, aber sie konnte ja fragen. Von fragen hatte Sunshine nichts gesagt. Und wenn das, was Hannah gestern widerfahren war, auch Rachel widerfahren war, musste ja niemand etwas erzählen, weil sie beide Bescheid wussten. Das war dann so eine Art Grauzone. Vielleicht. Aber der einzige Mensch, an den Hannah sich überhaupt wenden konnte, der einzige Mensch, der sie vielleicht verstehen würde, das war Rachel.
Hannah würde es versuchen. Manchmal, wenn einem etwas absolut nicht mehr aus dem Kopf ging, blieb nur noch eine Möglichkeit, um sich besser zu fühlen, und das war eben, mit einem Menschen zu reden, der wusste, wie schlimm das alles sein konnte.
Sunshine war gestern drei Stunden lang weggeblieben. Je mehr Zeit vergangen war, desto gemeiner war der Mann geworden, und es war ihr immer schwerer gefallen, sich an diesen fernen, fernen Ort zurückzuziehen und die Tränen zurückzuhalten. Aber sie hatte es geschafft.
Anscheinend hatte Mr Cárcan genau gewusst, wann Sunshine zurückkommen würde, weil er Hannah rechtzeitig befohlen hatte, sich anzuziehen und in das Vorzimmer zu gehen. Kaum war sie dort gewesen, allein, war Sunshine zur Tür hereingekommen.
Sunshine hatte sie zurück zum Bus gebracht. Zadok hatte schon auf sie gewartet, und niemand hatte ein Wort gesagt. Wenn man sonst einmal zufällig mit jemandem in der LEERE allein war, wollten die Erwachsenen immer alles ganz genau wissen, jedes einzelne Wort, um sicherzugehen, dass man nicht spirituell vergiftet wurde oder ein GEHEIMNIS an die falschen Menschen ausgeplaudert hatte. Aber jetzt schien es sie überhaupt nicht zu interessieren. Vielleicht war das auch besser so, weil Hannah sich schämte und es ihr peinlich war und sie ganz bestimmt nicht darüber reden wollte. Sie wollte es einfach nur vergessen.
Sunshine hatte gesagt, dass es ein GEHEIMNIS war und dass es Ungehorsam wäre, darüber zu reden, aber da brauchte sie sich wirklich keine Sorgen zu machen. Niemals hätte Hannah mit einem anderen Menschen darüber gesprochen, auch ohne diese Warnung nicht. Falls einer der Führer dahintergekommen wäre, hätten sie ihr wieder die Schuld gegeben, genau wie letztes Jahr in Chile, als sie das mit Onkel Gabriel erzählt hatte, nur um dann zu hören zu bekommen, dass sie und ihre Dämonen ihn in Versuchung geführt hatten. Anschließend war sie vor den Augen der versammelten Oase gedemütigt und später auch noch bestraft worden.
Hannah schlich auf Zehenspitzen zurück, huschte die Treppe hinauf und schlüpfte in ihr Bett. Dabei überlegte sie ununterbrochen, wie sie wohl am besten mit Rachel reden konnte – Rachel, mit der sie vor nicht allzu langer Zeit noch so eng befreundet war, dass die Leitung der Oase ihnen jeden Kontakt verboten hatte.
So war es eben – man konnte sich zwar anfreunden, aber man durfte auf keinen Fall eine beste Freundin haben.
Denn beste Freundinnen, ähnlich wie verheiratete Paare, liefen Gefahr, einen anderen Menschen wichtiger zu nehmen als den Herrn oder den PROPHETEN oder die Oase. Sie könnten einander in Versuchung führen, Geheimnisse zu haben. Manchmal konnte es sogar passieren, dass man einfach nur gut befreundet war, aber die Leiter der Oase dachten, dass daraus bereits mehr wurde. Und weil man das alles nicht wirklich erklären konnte, musste man gut aufpassen. Aber das hatten sie nicht gemacht.
Mittlerweile war es wieder ein bisschen besser, und sie durften wenigstens miteinander sprechen, aber die Führer hatten trotzdem noch ein Auge auf sie. Daher war Rachel zu den Kleinkindern gesteckt worden, damit sie nicht allzu viel Gelegenheit bekamen, miteinander zu reden.
Bei der Morgenandacht saß Hannah so still wie nur möglich da und starrte auf die Seiten hinab, ohne zu lesen. Das schlechte Gewissen machte ihr zwar zu schaffen, doch sie gab jeden Versuch, sich zu konzentrieren, auf, weil die Worte einfach durch sie hindurchflossen, egal wie sehr sie sich bemühte. Manchmal vergingen ganze Seiten, bevor ihr klar wurde, dass sie kein einziges Wort gelesen hatte.
Die Unterweisungen, die Worte des PROPHETEN , waren wichtig für ihre geistige Gesundheit und unbedingt notwendig, um den Teufel und seine Dämonen in Schach zu halten, aber ihre Gedanken ließen sich einfach nicht bändigen. Sie bemühte sich tapfer, nicht herumzuzappeln und nicht auf die Uhr zu schauen, bis die zwei Stunden endlich vorüber waren und das
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