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Mister Peanut

Mister Peanut

Titel: Mister Peanut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Adam Ross
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konnte, dachte Marilyn, könnte er eines Tages nirgendwo mehr sein. Dann käme sie nach Hause, und er wäre verschwunden. Nichts in der ganzen Welt war jetzt wichtiger, als in Erfahrung zu bringen, wo Sam sich gerade aufhielt.
    Sie ging zum Telefon, rief im Krankenhaus an und hatte Patti am Apparat, die Empfangsdame der Bay-View-Klinik. Patti erkannte Marilyns Stimme, warf einen Blick auf Sams Dienstplan und stellte sie in die Chirurgie durch. Donna Bailey, die dortige Rezeptionistin, gab an, Sam vor etwa fünfzehn Minuten im OP gesehen zu haben. »Geben Sie mir einen Moment«, sagte sie, »dann finde ich ihn.« Marilyn lauschte in die Stille hinein und hoffte, er würde den Hörer abnehmen, wusste aber gleichzeitig schon, dass er es nicht tun würde.
    »Marilyn«, sagte Donna, »ich kann ihn gerade nicht finden, aber ich weiß, dass er hier ist. Sein Nachmittag ist lückenlos verplant. Ich werde versuchen, ihn zu erwischen und ihm zu sagen, dass er Sie zurückrufen soll. Ist alles in Ordnung?«
    »Ja.«
    »Sind Sie zu Hause?«
    Das Gespräch war Marilyn unangenehm, da es Donna gewesen war, die ihr einen Hinweis auf Sams letzte Liebschaft gegeben hatte. Donna hatte einen Brief geöffnet und an Marilyn weitergegeben, den diese Susan Hayes ein paar Wochen nach ihrer Rückkehr aus Los Angeles an Sam geschrieben hatte: Ich habe mich schrecklich aufgeführt, als du hier warst, Sam. Ich weiß, ich habe mich kindisch benommen und in zu kurzer Zeit zu viel von dir verlangt, aber ich werde weiter warten, das verspreche ich dir. Unsere Liebe ist noch immer nicht gescheitert. Ich schaue jetzt in diesem Augenblick auf die Uhr, die du mir geschenkt hast, und denke an unsere gemeinsame Zeit. Donna wusste genau, warum Marilyn jetzt anrief, und ihr besorgter Tonfall klang einen Hauch zu vertraulich, so als teilten sie beide ein Geheimnis.
    »Wissen Sie«, sagte Marilyn, »eigentlich ist es nicht so wichtig. Morgen ist die Assistenzärzteparty, und ich wollte ihn nur bitten, mir vor dem Einkauf die genaue Gästezahl durchzugeben.«
    »Sind Sie sicher? Ich mache mich gern auf die Suche nach ihm.«
    »Nein, wirklich«, sagte Marilyn, »alles ist in Ordnung.«
    Es war tatsächlich alles in Ordnung, dachte sie beim Auflegen. Er war im Krankenhaus. Sie musste fest daran glauben, dass er dort war, das war der ganze Trick: ihre Ungläubigkeit auszusetzen, den Angaben ihres Ehemannes zu vertrauen, sich von Hoverstens Zweifel nicht anstecken zu lassen. Sie würde den Tag gelassen bestreiten, weil Sam ihr versprochen hatte, in Zukunft dort zu sein, wo er sein sollte. Zu dieser Übereinkunft waren sie gelangt. Und in der Zwischenzeit gab es jede Menge zu erledigen.
    »Chip!«, rief sie vom Fuß der Treppe. »Bitte steh jetzt auf!« Weil sich oben nichts regte, ging sie die Treppe hinauf und öffnete die Kinderzimmertür. Das Mobile mit den schwarzen und weißen Schwänen schaukelte in der leichten Brise über dem Bett, und im Zimmer war es so still, dass sie die Holzscheiben im Luftzug aneinanderklacken hörte. Chip lag schlafend auf dem Rücken, die Delairemaske an Kinn und Stirn geschnallt. Wenn er schlief, sah er aus wie Sam, auch wenn die Maske seinen Mund ein Stück weit offen stehen ließ. Marilyn löste die Klammern und hob die Maske ab; die Schnallen hinterließen rote Abdrücke auf dem Kindergesicht, die an eine Kriegsbemalung erinnerten. »Chip«, sagte sie und drückte sanft seinen Arm, »Chip, wach auf.« Er reagierte nicht. Sie knuffte ihn zweimal in die Rippen. »Chip, hallo?« Es war, als wäre er tot, und jetzt musste sie, was sie nur ungern tat, energisch werden: Sie packte ihn bei den Schultern und schüttelte ihn so kräftig, als wollte sie ihn an die Wand schleudern. Fast wurde der kleine Körper von der Matratze gehoben. »Chip, bitte wach auf!« Der Junge winselte, fast fürchtete sie, er könne zu weinen anfangen; aber immerhin war er jetzt wach. Er schlug die Augen auf, ohne etwas zu sagen, und machte ein mürrisches Gesicht. »Komm, wir wollen uns anziehen«, sagte sie. Sie half ihm auf, zog ihn an den Armen nach vorn, während er den Kopf im Nacken hängen ließ; anschließend blieb er für einen Moment mit krummem Rücken, zusammengekniffenen Augen, auf die Brust gedrücktem Kinn und nach oben gekehrten Handflächen auf der Bettkante sitzen wie eine Marionette mit abgetrennten Fäden.
    Wir verbringen den Tag einfach wie immer, dachte Marilyn, während sie ihn anzog. Wir haben viel zu tun, wir dürfen nichts vergessen,

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