Mit Herz und Skalpell
Vielleicht wird sie das eines Tages anders sehen . . . sie ist noch jung.«
Richard presste die Handflächen gegeneinander. »Wenn sie nicht so viel Zeit während des Studiums vergeudet hätte, dann . . .«
»Lass gut sein«, fuhr Simone Willer dazwischen.
Linda seufzte laut. »Es tut mir leid, dass ich nicht die Tochter bin, die du dir gewünscht hast.« Herausfordernd hielt sie dem missbilligenden Blick ihres Vaters stand.
Simone Willer legte ihrer Tochter eine Hand auf die Schulter. »So etwas darfst du nicht sagen. Wir sind sehr stolz auf dich. Eine bessere Tochter hätten wir uns gar nicht wünschen können.«
»Du dir vielleicht nicht.« Linda ergriff die Hand ihrer Mutter und lächelte sie dankbar an. Immer war sie es, die sich schützend vor Linda stellte.
Lindas Vater schob scheinbar unbeteiligt die Kuchenkrümel auf seinem Teller zusammen. Linda hatte oft genug zu spüren bekommen, dass sie es ihrem Vater kaum recht machen konnte. Der Höhepunkt war ihr Outing gewesen. Noch immer schwieg ihr Vater am liebsten zu diesem Thema. Wenn man über etwas nicht sprach, existierte es auch nicht – jedenfalls in seiner Vorstellung.
»Bleibst du noch zum Abendessen?«, lenkte Lindas Mutter ab.
»Nein, ich denke nicht. Ich muss zu Hause noch ein bisschen was erledigen.« Linda hatte beim besten Willen keine Lust, auch den Rest des Tages noch mit Vorwürfen konfrontiert zu werden, auch wenn sie nur unterschwellig waren in den Blicken ihres Vaters.
»Wann sehen wir dich denn wieder?«, fragte Richard Willer.
Linda zuckte mit den Schultern. »Weiß ich noch nicht. Ich habe viel zu tun auf der Arbeit.«
Als Linda nach dem Kaffeetrinken wieder in ihrem Auto saß, war sie froh über die halbe Stunde Fahrt, die sie von ihren Eltern trennte. Natürlich liebte sie sie, trotz allem. Aber meist war es doch sehr anstrengend mit ihnen, besonders mit ihrem Vater.
~*~*~*~
A lexandra hatte sich einen ganzen Stapel aktueller Fachliteratur über Angiomyolipome ausgedruckt. Genau die richtige Lektüre für einen Sonntagnachmittag.
Sie überflog die einzelnen Artikel. In all den Jahren hatte sie sich eine sehr effiziente Art angewöhnt, solche Berichte zu lesen. Zeit sparend, aber doch effektiv. Schon nach wenigen Seiten erkannte sie, dass ihr Fall wirklich außergewöhnlich war.
Sie klappte ihren Laptop auf. Während das Betriebssystem hochfuhr, trank sie einen Schluck Cola. Ihr erster Eindruck bei der Operation hatte sie also mal wieder nicht getäuscht. Es war kein gewöhnlicher Darmtumor.
Alexandra öffnete eine Internetseite zur weiteren Literaturrecherche und tippte einige Suchbegriffe ein. Die Seite spuckte nur ein einziges Ergebnis aus. Sie klickte auf den Link zu dem ausführlichen Fallbericht. Es war eine ganz ähnliche Geschichte wie bei ihrem Patienten, und es wurde darauf hingewiesen, dass – wie sie schon vermutet hatte – weltweit noch kein derartiger Fall bekannt war.
Zufrieden lächelnd lehnte sich Alexandra in ihrem Schreibtischstuhl zurück. Volltreffer. Jetzt musste sie nur noch überlegen, was sie mit diesem Fall anstellen sollte. Ohne Frage musste daraus eine Veröffentlichung oder ein Vortrag werden.
Vielleicht könnte sie mit einem Poster anfangen. In wenigen Wochen war der Kongress der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie in München. Dort gab es die Möglichkeit, wissenschaftliche Projekte oder eben spannende Fälle als Poster zu präsentieren. Und je nach Resonanz könnte sie anschließend versuchen, einen Artikel in einem Fachblatt unterzubringen. Ja, das war eine gute Idee.
Alexandra nahm ihr Glas in die Hand und betrachtete seinen dunkelbraunen, perlenden Inhalt. Genau genommen war es ja gar nicht nur ihr Fall, sinnierte sie. Linda hatte den Patienten betreut und mit ihr operiert. Für einen kurzen Moment schloss sie die Augen. Der Gedanke an Linda löste eine warme Welle aus, die durch ihren ganzen Körper zu strömen schien.
Ob Linda Lust hatte, gemeinsam mit ihr an einem Poster zu arbeiten?
Alexandra ergriff ihr Handy und wählte die Nummer der Krankenhauspforte. »Kirchhoff«, meldete sie sich, als an der Zentrale jemand abnahm. »Können Sie mich bitte mit Frau Willer auf dem Handy verbinden. Ich muss etwas Wichtiges mit ihr besprechen.« Alexandra hatte Lindas Privatnummer nicht, also musste sie den Umweg über das Krankenhaus nehmen. Von dort aus konnte man sie mit allen Mitarbeitern verbinden, die ihre Nummern hinterlegt hatten. Hoffentlich gehörte Linda
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