Mit Herz und Skalpell
Stattdessen hob Alexandra die Hand und griff nach dem Anhänger, den sie an einer Kette um den Hals trug. Linda konnte nicht genau erkennen, was er darstellte, aber es sah ungewöhnlich aus.
»Was ist das?«, fragte sie.
Erstaunt sah Alexandra auf. »Was meinst du?«
»Deinen Kettenanhänger.«
Als hätte Alexandra erst jetzt bemerkt, dass sie den Anhänger umklammerte, öffnete sie die Hand und hielt ihn in Lindas Richtung. »Pfeil und Bogen.«
Linda beugte sich etwas näher zu ihr, um das silberne Schmuckstück besser begutachten zu können. »Hat das eine Bedeutung?«, fragte sie neugierig.
Alexandra nickte. »Ja. Bogenschießen ist meine große Leidenschaft.«
»Tatsächlich!« Lindas Augen weiteten sich. Alexandra war immer wieder für eine Überraschung gut.
»Ja, ich mache das schon seit vielen Jahren. Wenn es klappt, trainiere ich zweimal die Woche.« Alexandra ließ ihre Kette wieder los. »Der perfekte Sport zum Entspannen für mich.«
Linda stellte sich Alexandra vor, wie sie mit ihren starken Händen den Bogen spannte und einen Pfeil auf die Zielscheibe abfeuerte. Ein atemberaubendes Bild, voller Kraft und überwältigender Schönheit . . . Sie verlor sich in ihrer Träumerei.
»Hat es dir die Sprache verschlagen?«, holte Alexandra sie in die Realität zurück.
Linda merkte, wie ihr das Blut in die Wangen schoss. »Entschuldige. Hast du etwas gesagt?«
Alexandra lachte. »Ich habe dich gefragt, ob du Bogenschießen schon mal ausprobiert hast. Du schienst aber in deiner eigenen Welt zu sein.«
Linda ging auf die letzte Bemerkung wohlweislich nicht ein. »Nein, habe ich noch nie«, antwortete sie auf Alexandras Frage und kickte mit dem Fuß einen kleinen Kieselstein zur Seite.
»Du solltest es mal versuchen. Es ist toll.«
Jetzt wagte Linda doch wieder, Alexandra anzusehen. »Würde ich wirklich gern.«
Alexandra überkreuzte die Arme vor der Brust, rieb sich mit den Händen über die Oberarme und stand von der Treppe auf. »Mir wird langsam kalt. Lass uns wieder reingehen, damit wir den Nachtisch nicht verpassen.«
Enttäuschung machte sich in Linda breit und zwickte in ihrer Brust. Eine direkte Einladung war offenbar zu viel erhofft . . . »Ja, klar«, stimmte sie zu. Dass ihre Stimme dumpfer klang als vorher, schien Alexandra nicht zu bemerken.
Sie kamen gerade rechtzeitig, als die Süßspeisen an ihren Platz gestellt wurden. Wie alles andere schmeckten sie ausgezeichnet.
»Jetzt bin ich aber satt«, erklärte Alexandra, nachdem sie ihren Teller restlos leergegessen hatte. »Das war ziemlich lecker.«
»Darf es noch eine Kaffeespezialität sein? Oder ein Schnaps?«, fragte der Kellner beim Abräumen der Dessertteller. Alexandra und Linda lehnten dankend ab.
»Ich glaube, die mästen uns und füllen uns ab, um uns mit ihrem Geschwafel einzulullen«, sagte Alexandra, als der Kellner wieder außer Hörweite war. »Was hältst du davon, wenn wir noch einen kleinen Spaziergang machen? Hier passiert sowieso nichts mehr.«
Linda zögerte. »Ich weiß nicht . . .« Sie hatte trotz aller guten Vorsätze zu viel Wein getrunken. Und Alexandras ständige Stimmungswechsel setzten ihr zusätzlich zu. Sie wusste einfach nicht, wie sie damit umgehen sollte.
»Ich könnte dir meine alte Wohnung zeigen. Sie liegt direkt an der Isar. Das lohnt sich.« Alexandra hob auf ihre unnachahmliche Art eine Augenbraue. Dann ergriff sie Lindas Hände: »Lass mich nicht allein gehen – bitte.«
Das Leuchten in Alexandras Augen ließ alle Vernunft dahinschmelzen. »Okay«, stimmte Linda zu.
Alexandra lächelte. »Ich hol unsere Sachen.« Sie stand auf und kam wenig später mit ihren Jacken zurück. »Wir können los.«
Sie liefen dicht nebeneinander durch die Dunkelheit. Keine der beiden sagte ein Wort.
Wie gern hätte Linda Alexandras Hand genommen, aber sie traute sich nicht. Alexandras Reaktion war nicht vorauszusehen, und für eine erneute Zurückweisung fühlte sich Linda nicht gewappnet. Und ohnehin . . . es war sinnlos, sich mit ihrer Oberärztin einzulassen. Wie sollte das funktionieren? Es würde nur Probleme mit sich bringen. Vor allem auf der Arbeit. Nein, völlig klar, es ging einfach nicht.
Plötzlich war es Alexandra, die Lindas Hand ergriff. Wie selbstverständlich verwoben sich ihre Finger miteinander. Leise sagte Alexandra: »Ich hoffe, dir hat der Abend gefallen.«
Lindas Herz schlug schneller. »Ja . . . ich . . .«, stammelte sie, mehr brachte sie nicht heraus.
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