Mit Konfuzius zur Weltmacht
vierte Klasse einer staatlichen Grundschule in Peking. Ihre Eltern arbeiten beide bei Daimler, der Vater als Rechnungsprüfer, die Mutter in der Personalabteilung. Mit 1030 Mitschülern steht Yuchen auf dem Pausenhof in Reih und Glied. Sie trägt das rote Halstuch der kommunistischen Kinderorganisation Junge Pioniere, der alle Grundschüler angehören. Ein junger Sportlehrer ruft Befehle ins Mikrofon, die Kinder exerzieren. »Lehrer, wir danken Ihnen für Ihre Mühen«, schreien die Schüler im Sprechchor. Heute ist 8. März, Frauentag. Eine vorbildliche Lehrerin wird ausgezeichnet. Die Schüler klatschen im Takt. Lehrer gehen durch die Reihen und kontrollieren, ob alles stimmt. Ein Junge hat Handschuhe an, das ist nicht gestattet, er muss sie ausziehen.
Konfuzius schwebt im Geist darüber, doch als Standbild existiert er an den meisten staatlichen Schulen noch nicht. Stattdessen überragt ein anderes Vorbild die Eingangshalle, aus Gips geformt: eine Statue des Soldaten Lei Feng. Er soll sich beim Auswendiglernen von Mao-Sprüchen hervorgetan, die Socken seiner Kameraden gewaschen und alten Frauen über die Straße geholfen haben, bevor er von einem Strommast erschlagen wurde. Mittlerweile zweifeln viele in China, ob die Legenden über ihn stimmen.
Auch Yuchen, die Tochter des Mercedes-Mitarbeiters, ist ein Vorbild für die Mitschüler. Sie hat gleich zwei Titel: »Kader«, wie sonst die Funktionäre in China heißen. Es bedeutet vor allem, dass sie eine halbe Stunde vor Schulbeginn da sein muss, um anderen ein Beispiel zu geben. Ihr zweiter Titel ist »Gutes Kind«. Dazu wird man von Lehrern und Schülern gemeinsam gewählt, und man muss natürlich gute Noten haben. Noten bekommt man in China von der ersten Klasse an, sie gehen von 1 bis 100. Yuchen hat in Chinesisch eine 97, in Englisch eine 95 und in Sport eine 98,5.
Auch im Unterricht selbst geht es diszipliniert zu. Die Kinder stehen auf und sagen im Sprechchor »Lehrer, guten Tag!«, wenn die Lehrerin hereinkommt. Diese verbeugt sich leicht. Das gleiche Ritual wiederholt sich am Ende der Stunde: »Lehrer, auf Wiedersehen!« Die Kinder sitzen frontal zur Tafel, jedes allein am Tisch. Wer nichts zu sagen oder zu schreiben hat, verschränkt die Hände vor der Brust oder auf dem Rücken. Wer sich meldet, legt den rechten Ellbogen auf den Tisch und streckt die nach links geöffnete Hand kerzengerade nach oben.
»96 : x = 4, was ist dann x?«, fragt die Mathelehrerin. Als Yuchen aufgerufen wird, springt sie auf, wie gefordert, stellt sich stramm neben ihren Tisch und antwortet. Heute trägt sie, wie die meisten in ihrer Klasse, zum roten Halstuch eine Trainingsjacke. Es gibt auch eine Schuluniform, ebenfalls ein Trainingsanzug, die ist aber nur montags Pflicht.
Jede Woche beginnt mit einem Fahnenappell: Chinas rote Fahne wird aufgezogen, die Schüler singen die Nationalhymne. Die Lehrerinnen, viele von ihnen in legerem Pullover und Jeans, wirken im Vergleich geradezu flippig. An dieser Schule haben die meisten Lehrer die 40 noch nicht erreicht, sind in der Zeit nach Mao groß geworden. Das trägt dazu bei, dass der Unterricht keineswegs so veraltet ist, wie er den äußeren Formen nach erscheint. Im Fach Chinesisch diskutieren die Schüler einen Text über Venedig. Yuchen sagt: »Wie schnell ein Boot fährt, hängt nicht nur von der Antriebskraft ab, sondern auch von seiner Form.« Die 27-jährige Lehrerin Shu Qi ermutigt die Schüler, in Gruppen darüber zu diskutieren, ob das stimmt. Dann sollen sie sich vorstellen, selbst ein Bootsmann zu sein. Frau Shu ändert deshalb in der Geschichte das »Er« zum »Ich« – am Laptop, den Text projiziert sie auf eine Leinwand. Das Boot wird im Buch als »Schlange« bezeichnet. An diesem Beispiel erläutert die Lehrerin, was eine Metapher ist. Die Klasse hat 25 Schüler, jeder kommt zu Wort.
In der Englischstunde wird viel im Sprechchor wiederholt. Die Lehrerin möchte nur das hören, was sie vorgegeben hat, keine freien Antworten. »I like dogs, I don’t like cats«, steht im Text. Ein Schüler sagt, er habe aber Katzen lieber. Statt die Chance zu nutzen, die Fremdsprache in einem Gespräch über die unterschiedlichen Standpunkte zu praktizieren, beschimpft ihn die Lehrerin: »Schau dir das Buch in Zukunft genauer an!« Modern sind jedoch die englischen Vokabeln, welche die jungen Pekinger im Unterricht lernen, »Pop«, »CD« und »MP3-Player«. Die Musiklehrerin zeigt sogar einen deutschen Musikfilm, wenn auch nicht
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