Mit Leerer Bluse Spricht Man Nicht
Sie erwähnten in ihrem Schreiben auch nicht meine Vorliebe dafür, stundenlang zerknirscht vor mich hin zu grübeln, neuwertige Jeans zu Kunstobjekten zu zerschreddern oder Fahrradunfälle zu sammeln. Meine wahre Leidenschaft, die Zubereitung von möglichstwirkungsvollen Cocktails auf Wodkabasis, wurde zu der äußerst neckischen Formulierung »Katinka enjoys experimental cooking« eingedampft.
Um meine Furcht vor der Fremde zu mildern, erteilte mir mein Vater eine Blitzlektion über den speziellen Flecken Erde, den er selbst in den frühen Sechzigerjahren des 20. Jahrhunderts heimgesucht hatte. Auf einem vergilbten Stadtplan zeigte er mir die Sehenswürdigkeiten von East Windsor, Connecticut.
»Hier ist der Eisladen von Mr. Garner. Und da gibt es die besten Hot Dogs. Da trainiert das Footballteam, und hier müsste die Parade der Blumenkönigin entlangfahren, ungefähr im September, siehst du, einmal um die Episkopal-Kirche, dann vorbei am Schwarzenviertel …«
Seine Erläuterungen beruhigten mich ein wenig. Falls ich es in der amerikanischen Provinz nicht würde aushalten können, müsste ich einfach einen verrückten Professor finden und diesem erklären, dass ich um Punkt zwölf an der Kirchturmuhr hängen müsste, damit der dort einschlagende Blitz mich zurück in mein Jahrzehnt bringt.
»Heißt der Schlägertyp an der Schule auch wirklich Biff, Papa?«, erkundigte ich mich zur Sicherheit.
»Red keinen Blödsinn,« sagte er und fuhr fort: »Diese Ecke ist gefährlich. Die Hendersons haben einen Hund, den sie dort frei laufen lassen, und ich sage dir, der sieht zwar niedlich aus, aber wenn du ihn reizt, dann gute Nacht …«
Ich hatte keine gute Nacht mehr, denn noch am selben Abend fuhren wir zum Flughafen. Trotz gültiger Papiereund guter Englischkenntnisse fühlte ich mich nicht ausreichend vorbereitet auf dieses Abenteuer. Nicht nur, dass meine Eltern sich vehement weigerten, das Datum meines Rückfluges preiszugeben, nein, kurz nachdem ich die Sicherheitskontrolle passiert hatte, brachten sie eine letzte, besondere Überraschung hervor: »Übrigens – deine beiden Gasteltern sind Polizisten. Zwei echte amerikanische Cops, ist das nicht aufregend?«
Ich heulte vor Aufregung, den ganzen Flug über. Ich war nun sicher, dass meine Eltern Doppelagenten waren, mich verraten hatten und in eine Art Bootcamp abschieben wollten. Kalter Alkoholentzug unter Aufsicht zweier Officers sollte meinen Willen brechen, wahrscheinlich planten sie, dass ich erst dann wieder europäischen Boden betreten sollte, wenn ich zum Zeichen der bedingungslosen Kapitulation mein »Kein Blut für Öl«- T-Shirt verbrannt hätte.
Als das Flugzeug endlich am JF K-Airport landete, hatte ich mich einigermaßen beruhigt, indem ich mir eine grobe Strategie für die Befreiung der Völker der Welt von der Unterjochung der imperialistischen Großmacht ausgedacht hatte. Gerade wollte ich dem Zollbeamten von meinen Absichten berichten, als ich bemerkte, dass ich seine Sprache nicht verstand. Kein Wort. Was ich für die Landessprache hielt, war ihm vollkommen fremd. Anstatt also als politischer Häftling erst eingekerkert und für immer des Landes verwiesen zu werden, schaltete ich blitzschnell auf Plan B um und heulte erneut. Und in diesem Moment erkannte ich mich selbst, wenn auch mühsam. Jemand hielt mir ein Bild unter die Nase, eineAufnahme, die heimlich entstanden sein musste, als ich etwa zwölf Jahre alt gewesen war. Blond und unschuldig strahlte ich mir entgegen, gemeinsam mit dem Cockerspaniel unserer Nachbarn.
»Katrina?«, fragte mich der Bildhalter ungläubig, und noch ungläubiger antworte ich: »Bob?«
Beide stutzten wir und konnten es kaum fassen. Während Bob sich fragte, wie er das nette Mädchen auf dem Foto mit dem rothaarigen Teenager, dessen Kleidung aus Sicherheitsnadeln bestand, in einen Kontext bringen sollte, war ich völlig erschüttert darüber, dass ein amerikanischer Cop genauso aussehen konnte wie ein amerikanischer Cop. Bob Whitman sah aus, als hätte man Chief Wiggum von den
Simpsons
entgilbt und anschließend in Drei- D-Optik animiert. Er war zwei Köpfe kleiner und fünfzig Kilo schwerer als ich. Vorsichtig schaute er um mich herum, als suche er nach dem Cockerspaniel, der ihm als Beweis für meine Identität hätte dienen können. Er zuckte mit den Schultern und sagte: »Wellthenwebettertakeoffbeforethetrafficgoesbananasoutthere.«
Ich antwortete schüchtern: »You are welcome!«, dann wurde
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