Mitch - Herz im Dunkeln
Dennoch, eine Anschrift mit Telefonnummer war mehr, als er noch vor einer Stunde gehabt hatte.
Und außerdem saß er nicht mehr wie noch vor einer Stunde allein in seiner Hütte.
„Ich kann mich sogar noch ganz genau an das erste Mal erinnern, als ich auf einem Pferd saß“, erzählte Becca. „Ich war zehn, und es war Mai. Für New Yorker Verhältnisse war es warm. Ich weiß noch, wie sich die Sonne auf meinem Gesicht anfühlte.“
Sie schloss die Augen und hob ihr Gesicht, als wollte sie es in die Sonne halten. Und plötzlich änderte sich Mitchs Einstellung zu dem, was er hier tat. Es war ein Fehler. Sicher, er mochte Beccas Gesellschaft. Viel zu sehr.
Er wusste, dass er lieber aufstehen und verschwinden sollte. Er konnte ohne Weiteres heftige Müdigkeit vorschützen – was immer noch besser war als Wahnsinn – und schnell, sehr schnell in seine Unterkunft zurückkehren.
Allein.
Warum war er überhaupt hier? Warum gab er sich der Fantasie hin, ihren anmutigen langen Hals zu küssen? Das Gesicht in ihrem duftenden Haar zu vergraben? Warum gab er sich den Erinnerungen an die atemlosen, leidenschaftlichen Küsse hin? An die Zartheit ihrer Lippen und daran, wie sie sich an ihn geschmiegt hatte? Warum malte er sich aus, wie es wäre, frühmorgens neben ihr aufzuwachen und sie im Schlaf zu betrachten?
Er war ein Killer.
Na schön, mit letzter Gewissheit konnte er das nicht von sich sagen. Aber es sprach einiges für diese Möglichkeit. Er war sich fast sicher. Auf jeden Fall hatte er einige Zeit im Gefängnis verbracht. Und wenn er raten müsste, wofür, dann deuteten seine Träume von Blutbädern nur in eine Richtung.
„Da saß ich zum ersten Mal im Sattel“, fuhr Becca fort. Sie schlug die Augen wieder auf und schenkte ihm ein Lächeln, mit dem sie einen Gletscher zum Schmelzen gebracht hätte. „All diese Kraft und Anmut unter mir. Ich war so voller Ehrfurcht und so überwältigt, dass ich fast geweint hätte. Bei dem Pferd handelte es sich um eine Stute namens Teacup, die es täglich mit einem Dutzend Mädchen wie mir zu tun gehabt haben musste. Sie war geduldig und würdevoll, und wann immer sie sich zu mir umdrehte, schien sie zu lächeln. Ich verliebte mich sofort. Von diesem Augenblick an war es mein Lebensziel, so viel Zeit wie nur irgend möglich reitend zu verbringen. Was nicht leicht war, schließlich wohnte ich in New York.“
„Mitten in der Stadt?“ Er konnte sich die Frage nicht verkneifen.
„Nein, etwa fünfundvierzig Minuten nördlich von Manhattan. In Mount Kisco.“ Sie machte eine Pause, und er wappnete sich bereits. Und da kam es auch schon. „Was ist mit dir? Woher stammst du?“
Auf diese Fragen hatte er sich vorbereitet. „Ich weiß nie, was ich sagen soll, wenn man mich danach fragt“, sagte er. „Ich habe an vielen verschiedenen Orten gelebt, sodass ich gar nicht genau weiß, welchen ich als mein Zuhause betrachten soll.“
Zum Glück fand sie seine ausweichende Antwort nicht seltsam. Er schaffte es, dass sich das Gespräch wieder um Becca drehte. „Aber ich glaube, in Mount Kisco, New York, bin ich noch nie gewesen. Einen Ort mit Reitställen und Pferden, nur wenige Minuten nördlich von New York City gelegen, kann man sich nur schwer vorstellen.“
„Die wirklich guten Ställe waren in Bedford“, erklärte sie. „Ich fuhr die zehn Meilen dorthin mit dem Rad.“ Sie lachte. „Ich arbeitete unentgeltlich im Stall, gegen Reitzeit, verstehst du? Schon komisch. Ich arbeite immer noch fast für nichts, nur dass mir nicht viel Extrazeit zum Reiten bleibt.“ Sie verdrehte die Augen. „Na ja, wenn Whitlow zurückkommt und mich feuert, werde ich reichlich Zeit zum Reiten haben. Nur habe ich dann keinen Stall mehr für Silver.“
„Silver ist dein Pferd?“
Becca nickte. „Ja. Diesen Sommer feiern wir unser siebenjähriges Jubiläum.“
„Silver … nach wem benannt?“
„Der Name stammt aus einer alten amerikanischen Fernsehserie mit dem Titel The Lone Ranger . Sein Pferd hieß Silver, und er rief immer: ‘Hiho, Silver, auf geht’s’. Nicht sehr originell, denkst du jetzt sicher. Aber ich habe ihm den Namen nicht gegeben. Ich habe ihn auch nicht kastriert. Das war er schon, als ich ihn kaufte.“
Sie lachte. „Auf diese Weise entlarvt man einen Mann als echtes Greenhorn. Sprich von Wallachen, und er zuckt zusammen.“
Mitch lächelte verunsichert. „Habe ich das?“
Ihre fröhliche Miene war so echt und ansteckend. „Oh ja.“
„Na ja, es kommt mir
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