Mitch - Herz im Dunkeln
wenn sie Licht ins Dunkel seiner Vergangenheit gebracht hatten. Aber immerhin hätte sie dann Gewissheit. Und das war besser, als in dieser Situation einfach auseinanderzugehen.
Becca drehte sich wieder zum Fenster um und fühlte Ruhe in sich aufsteigen durch ihre Entscheidung. Der Wunsch, zu weinen, ließ nach. „Ich werde Hazel anrufen und sie bitten, mich anzupiepen, falls Casey Parker wieder auf der Ranch auftaucht. Ich werde sie anweisen, ihm irgendwie Geld anzubieten, wenn er bis zu unserer Rückkehr bleibt.“
„Er hat die Ranch verlassen?“
Sie sah zum makellos blauen Himmel hinauf und wunderte sich über sein plötzliches Interesse. „Hazel meint, er sei gleich wieder verschwunden. Offenbar war er aufgebracht darüber, dass schon ein anderer Casey Parker auf der Ranch gewesen ist.“ Sie drehte sich erneut zu ihm um, überzeugt, dass sie schrecklich aussah. Aber sie war froh, dass sie zumindest nicht weinte. „Ich glaube, wir sollten nach Wyatt City fahren und uns dieses Obdachlosenasyl mal anschauen. Wir könnten versuchen, mit den Männern zu reden, die dich dorthin gebracht haben.“
Mitch sah emotional genauso erschöpft aus, wie sie sich fühlte. „Wir?“
„Ja“, sagte Becca. Sie verschränkte die Arme, zum Zeichen dafür, dass es ihr ernst damit war. „Es sei denn, du hast gelogen und die vergangene Nacht war tatsächlich nur ein One-Night-Stand.“
Er schüttelte fassungslos den Kopf. „Becca, hast du mir überhaupt nicht zugehört? Ich bin wahrscheinlich ein übler Bursche. Du musst dich von mir fernhalten.“
„Kann schon sein“, sagte sie. „Aber was ist, wenn ich das nicht will?“
Wyatt City war genauso staubig und heruntergekommen, wie Mitch es in Erinnerung hatte.
Allerdings erinnerte er sich ohnehin nur an die Stadt von dem Moment, als er das First-Church-Obdachlosenasyl verlassen hatte, bis zur Abfahrt mit dem Bus nach Santa Fe.
Es war eine dieser Städte mit einer Hauptstraße, die nie modernisiert worden war. Die Gebäude stammten aus den späten Fünfzigern, frühen Sechzigern. Ihre Fassaden bröckelten, die Häuser verfielen. Wyatt City war auf dem besten Weg, zu einer Geisterstadt zu werden.
Das alte Kino war mit Brettern vernagelt, genau wie die Woolworth-Filiale. Beide sahen aus, als hätten sie schon vor zehn oder zwanzig Jahren dichtgemacht, ohne dass die Gebäude je wieder vermietet worden wären. Ein Schnapsladen dagegen schien ebenso gut zu laufen wie eine Pornovideothek und eine Bar.
„Hast du mal die Möglichkeit in Betracht gezogen, dass du hier gewohnt hast?“ Becca sprach zum ersten Mal seit Stunden wieder. Zumindest kam es Mitch so vor. Sie bog rechts ein in die Chiselm Street, in der eine Reihe von Lehmziegelgebäuden aus der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg in kleine Geschäfte umgewandelt worden waren. Es gab eine Handleserin, eine Chiropraktikerin, die gleichzeitig Masseuse war, einen Steuerberater, einen Tätowierer. „Vielleicht hast du hier irgendwo in der Stadt eine Wohnung oder ein Zimmer. Oder …“
„Ja“, unterbrach er sie. „Das wäre eine Möglichkeit.“ Er erzählte ihr nichts von seiner dunklen Ahnung, dass er aus einem ganz bestimmten Grund nach Wyatt City gekommen war. Aus einem Grund, den er zwar nicht kannte, über den er dennoch nicht sprechen konnte.
„Oh nein!“ Sie fuhr rechts ran und trat ein wenig zu heftig auf die Bremse. Erschrocken sah sie Mitch an. „Du könntest eine Frau haben. Du könntest verheiratet sein!“
„Bin ich nicht“, sagte er. „Keine Ahnung, woher ich das weiß, aber ich …“
„Du kannst es nicht mit Bestimmtheit wissen“, argumentierte sie. „Mitch, das Einzige, was wir mit Sicherheit wissen, ist, dass du nicht reiten kannst und aus irgendeinem Grund vor zwei Wochen in Wyatt City warst. Tja … und dass du nicht Casey Parker bist.“
„Wenn ich verheiratet bin …“ Er winkte ab. „Nein, ich weiß genau, dass ich es nicht bin. Ich bin immer allein. Ich lebe allein. Und in letzter Zeit habe ich auch allein gearbeitet. Ich weiß nicht, woher ich das weiß, denn ich habe ja nicht mal eine Ahnung, wie meine Arbeit überhaupt aussieht.“ Allerdings konnte er es sich denken. Die Liste der Möglichkeiten war kurz und nett. Einbrecher. Dieb. Betrüger.
Mörder.
„Falls dir das noch nicht genügt“, fuhr er fort, „dann sage ich dir, dass letzte Nacht …“ Er kniff die Augen zusammen und betrachtete durch die Windschutzscheibe das funkelnde Licht der untergehenden Sonne in der
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