Mitten in der großen Krise. Ein »New Deal« für Europa (German Edition)
sank) immer größer werden lassen.
Mit der Rückkehr zur »Laissez-faire-Theorie« wurde ja die wissenschaftliche Legitimation für die Entfesselung der Finanzmärkte geschaffen, der wichtigste Schritt in der Verlagerung des Gewinnstrebens von realwirtschaftlichen Aktivitäten zu Finanzveranlagung und -spekulation. Die »finanzalchemistischen« Aktivitäten, insbesondere das immer schnellere Trading, wurden wiederum durch die neuen Informationstechniken, insbesondere auch das Internet, gefördert.
Der markanteste Ausdruck der Diskrepanz zwischen der technischen Innovation und der sozialen Disinnovation ist die hohe Arbeitslosigkeit (sie wird durch die statistischen Arbeitslosenquoten massiv unterschätzt, weil diese die vielen Entmutigten nicht erfassen) sowie die massenweise Ausbreitung atypischer Beschäftigungsverhältnisse.
Die wichtigste soziale Innovation, durch die der technische Fortschritt ausgeschöpft und gleichzeitig die Beschäftigungslage und (damit) die Lebensqualität verbessert werden kann, besteht in der Entwicklung neuer, flexibler Arbeitszeitmodelle. Diese würden einerseits die Lebensarbeitszeit senken und sie andererseits gleichmäßiger verteilen, und zwar sowohl zwischen Personen als auch zwischen unterschiedlichen Lebensabschnitten. Ziel dieser Arbeitszeitmodelle ist es, technischen Fortschritt und sozialen Zusammenhalt langfristig zu integrieren.
Der zweite Typ von innovativem Arbeitszeitmodell zielt darauf ab, die Auswirkungen von Produktionseinbrüchen auf die Beschäftigungslage zu verringern, also die konjunkturelle Instabilität und den sozialen Zusammenhalt kurzfristig zu integrieren. Dabei geht es darum, die positiven Erfahrungen, die in der jüngsten Krise mit Kurzarbeitsmodellen gemacht wurden (insbesondere in Deutschland), zu verallgemeinern. Im Prinzip ist es – nicht zuletzt durch das Potenzial der Informationstechnologien – möglich, den Rückgang des Arbeitsvolumens infolge eines Konjunktureinbruchs nicht durch steigende Arbeitslosigkeit, sondern durch – nach Betrieben unterschiedliche – Reduktion der Arbeitszeit zu realisieren, und zwar nicht nur in der Industrie, sondern generell. Die Entwicklung praxistauglicher Modelle, die dies leisten, stellt eine soziale Basisinnovation dar: Das Problem der Arbeitslosigkeit würde dadurch nachhaltig entschärft.
Zunächst möchte ich die Notwendigkeit und das Potenzial langfristig orientierter Lebensarbeitszeitmodelle behandeln – sie betreffen den Zusammenhang zwischen technischem Fortschritt/Wirtschaftswachstum und Arbeitszeit – und danach die Kurzarbeitsmodelle – sie betreffen den Zusammenhang Konjunktur und Arbeitszeit.
15.5.1. Neue Lebensarbeitszeitmodelle
Vier einfache Hauptgründe erfordern in den Industrieländern eine langfristige Reduktion der Lebensarbeitszeit:
Selbst wenn es nach Jahren der Transformationskrise zu einem nachhaltigen Wirtschaftsaufschwung kommt, wird die bis dahin weiter angestiegene Sockelarbeitslosigkeit viel zu hoch sein, als dass sie durch das Wirtschaftswachstum allein beseitigt werden könnte. Dazu bedürfte es in den meisten Industrieländern eines Wachstums von mindestens drei Prozent pro Jahr, und das über viele Jahre (unter der plausiblen Annahme, dass der technische Fortschritt einen jährlichen Anstieg der Stundenproduktivität um etwa zwei Prozent ermöglicht).
Eine solche Wachstumsdynamik würde die ökologische Kapazität des »Raumschiffs Erde« sprengen. Denn da jene 85 Prozent der Weltbevölkerung, die außerhalb der Industrieländer in oft erbärmlichen Verhältnissen existieren, ihren Lebensstandard heben und daher ein langfristig höheres Wachstum des BIP pro Kopf anstreben und realisieren werden, würde die Weltwirtschaft insgesamt um gut fünf Prozent pro Jahr expandieren müssen, das ist – nicht zuletzt im Hinblick auf den Klimawandel – ökologisch nicht verkraftbar.
Angesichts dieser Restriktion und der Tatsache, dass in den Industrieländern schon ein erheblicher Wohlstand geschaffen wurde, sollten sie gewissermaßen in einen partiellen Ruhestand eintreten, also den Großteil des Produktionswachstums den weniger entwickelten Ländern überlassen und den Gewinn aus dem technischen Fortschritt in Form von mehr Lebensfreizeit statt in höheren Realeinkommen lukrieren. Das setzt allerdings gleichzeitig eine Verringerung der Ungleichheit in der Verteilung von Einkommen und Lebenschancen voraus. Denn in den vergangenen dreißig Jahren haben Armut und soziale
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