Mitten in der großen Krise. Ein »New Deal« für Europa (German Edition)
Ausgrenzung massiv zugenommen, obwohl die Gesamteinkommen merklich stiegen. 18
Die derzeit noch immer praktizierte Einteilung der Lebenszeit in drei Blöcke, Freizeit- und dann zunehmend Ausbildungsphase in Block 1 (0 bis ca. 20/25 Jahre), Arbeitsphase in Block 2 (20/25 Jahre bis ca. 60/65 Jahre) und (überwiegend) Freizeit in der Restphase von Block 3 (ab 60/65 Jahre) stammt aus einer Zeit, in der das Leben auf die Reproduktion zentriert war. Diese Gliederung erleichterte den Unternehmen, den Haushalten und dem Staat die Wahrnehmung ihrer Aufgaben zum Erwerb des Lebensunterhalts sowie zur Reproduktion von Familie und Gesellschaftssystem. Mit dem in den letzten sechzig Jahren in (Zentral-)Europa geschaffenen Wohlstand, dem anhaltenden Anstieg der Produktivität und insbesondere mit den Möglichkeiten der Mikroelektronik zur Flexibilisierung der Produktionsprozesse, ist diese Gliederung weitgehend obsolet geworden. Die langfristige Reduktion der Lebensarbeitzeit sollte daher für eine viel stärkere Durchmischung von Ausbildung-, Arbeits- und Freizeit genutzt werden. 19
Die Bereitschaft der Unternehmer, eine schrittweise Verkürzung der Lebensarbeitszeit mitzutragen, würde am ehesten dann erreicht werden, wenn die neuen Arbeitszeitmodelle gleichzeitig eine bessere Auslastung des Realkapitals ermöglichen, also die Gewinnlage verbessern. Dass dies möglich ist, zeigen die schon in den 1990er Jahren bei Unternehmen wie Volkswagen oder BMW eingeführten Arbeitszeitmodelle. Sie können als beispielhaft für essenzielle Elemente eines auch im Hinblick auf das Verhältnis von Arbeit und Freizeit erneuerten Europäischen Modells gelten:
Erzeugung und Implementierung von technischem Fortschritt durch Prozess- und Produktinnovationen.
Sicherung der Beschäftigung trotz eines enormen Produktivitätswachstums durch Flexibilisierung und Reduktion der Arbeitszeit pro Kopf. Im Gegenzug waren die Arbeitnehmer zu einem Lohnverzicht bereit, der allerdings kleiner war als das Ausmaß der Arbeitszeitverkürzung.
Kostensenkung durch die höhere Auslastung des Realkapitals als Folge der Entkoppelung von betrieblicher und persönlicher Arbeitszeit.
Die Effizienzsteigerung durch die neuen Arbeitszeitmodelle war so hoch, dass die Lohn- und Kapitalstückkosten insgesamt nicht zunahmen, obwohl die effektiven Stundenlöhne deutlich stiegen.
Die Sicherung der Beschäftigung stärkte das wechselseitige Vertrauen zwischen Belegschaft und Management und damit auch die Corporate Identity, die wiederum auf die Motivation, Innovationssfreude und Flexibilität der Mitarbeiter positiv zurückwirkt.
Die Arbeitszeitmodelle von VW oder BMW können insofern als vorbildhaft gelten, als sie in spezifischer Weise den Leitlinien eines europäischen Weges zurück zur Vollbeschäftigung entsprechen. Dies gilt insbesondere für die Komplementierung der technischen Innovationen durch soziale Innovationen, die Vermeidung einer Spaltung zwischen Arbeitslosen und Beschäftigten durch eine intensive Kooperation zwischen Unternehmern, Arbeitnehmern und dem Staat, sowie für die dadurch geförderte Corporate Identity.
Allerdings kann die Bewältigung des potenziellen Konflikts zwischen Produktivitätsfortschritt und Beschäftigungswachstum durch einzelne Konzerne nicht auf andere Branchen direkt übertragen werden. Wegen der Unterschiede im Produktivitätsfortschritt und im Niveau der Reallöhne zwischen den einzelnen Branchen sowie wegen der unterschiedlichen Lohnstrukturen innerhalb der Branchen müsste sowohl das Ausmaß der Arbeitszeitverkürzung als auch des Lohnausgleichs nach Branchen und/oder Unternehmen differenziert werden. Es geht also letztlich darum, die jeweils optimale Kombination verschiedener Maßnahmen zu finden. Folgende Varianten stellen die wichtigsten Komponenten innovativer Modelle zur Flexibilisierung und Verkürzung der Lebensarbeitszeit dar:
(Weitere) Entkoppelung von Betriebs- und Arbeitszeit.
Verkürzung der Wochenarbeitszeit, insbesondere durch variable Schichtmodelle. 20
Anpassung des Arbeitseinsatzes an Produktionsschwankungen (siehe den nächsten Abschnitt zur Kurzarbeit).
Abbau von Überstunden, insbesondere von regelmäßig geleisteten.
Ausweitung und Flexibilisierung von freiwilliger Teilzeitarbeit.
Bildungskarenz und Job Rotation.
Job Sharing.
Implementierung von Solidarprämienmodellen, bei denen das Arbeitsmarktservice/Bundesanstalt für Arbeit durch Prämien den Anreiz für bestimmte Gruppen von Arbeitnehmern erhöht, die eigene
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