Mitten ins Herz - Roman
Uhr. Hurra, noch vier Stunden Schlaf. Ich schaltete das Licht aus und kroch ins Bett,
konnte nicht einschlafen - zu viele Klamotten. Ich stand auf, zog mich bis auf die Unterhose aus und kroch wieder ins Bett. Nein, so konnte ich auch nicht einschlafen - nicht genug Klamotten. Ich zog das Hemd wieder an, schlüpfte unter die Decke und versank umgehend ins Land der Träume.
Als Ranger um halb neun an meine Zimmertür klopfte, war ich so startklar, wie man nur sein kann. Ich hatte geduscht und mir die beste Mühe mit den Haaren gegeben, ohne Gel wohlgemerkt. Ich schleppe jede Menge Zeug mit mir rum, aber wer hätte gedacht, dass ich Gel brauchen würde?
Ranger bestellte sich Obst, ein Vollkornbagel und Kaffee zum Frühstück, ich aß einen EggMcMuffin und Frühstückspommes und trank einen Schokoladenshake dazu. Ranger lud mich ein, deswegen gab’s noch eine Disney-Actionfigur gratis dazu.
In Richmond war es wärmer als in Jersey. Manche Bäume und die ersten Azaleen blühten bereits. Der Himmel war klar und wollte noch blau werden. Der Tag war bestens geeignet, um ein paar alte Damen zu schikanieren.
Auf den Hauptstraßen herrschte reger Verkehr, der aber versiegte, sobald wir in Louies Viertel kamen. Schulbusse fuhren vor und wieder ab, und die erwachsenen Bewohner brachen zu Yogakursen, Feinkostgeschäften,Tennisvereinen, Sportstudios und zur Arbeit auf. Heute Morgen strahlte das Viertel eine belebte Atmosphäre aus: aufstehen und zur Arbeit gehen. Mit Ausnahme von Louies Haus. Louies Haus sah genauso aus, wie es um drei Uhr morgens ausgesehen hatte, finster und abweisend.
Ranger rief Tank an und wurde davon in Kenntnis gesetzt, dass Ronald um acht mit der Kühltasche von zu Hause aufgebrochen war. Tank war ihm bis nach Whitehorse gefolgt
und erst dann zurückgekehrt, als er sicher sein konnte, dass Ronald tatsächlich nach Richmond unterwegs war.
»Na, was hältst du von dem Haus?«, fragte ich Ranger.
»Es sieht aus, als würde es ein Geheimnis bergen.«
Wir stiegen aus dem Auto und gingen zum Eingang. Ranger klingelte. Es dauerte nur einen kurzen Moment, und die Tür wurde von einer Frau Anfang sechzig geöffnet. Ihr braunes Haar war kurz geschnitten und rahmte ein langes schmales Gesicht ein, das von buschigen Augenbrauen beherrscht wurde. Die kleine, sehnige Figur war in Schwarz gekleidet, schwarzes Hemdblusenkleid, schwarzer Strickpullover, schwarze Halbschuhe und schwarze Strümpfe. Sie trug weder Make-up noch Schmuck, außer einem schlichten silbernen Kreuz an einer Kette um den Hals. Die Augen waren dunkel und blickten dumpf, als hätte sie seit langer Zeit nicht mehr geschlafen.
»Ja?«, sagte sie tonlos. Kein Lächeln auf ihren dünnen farblosen Lippen.
»Ich möchte zu Estelle Colucci«, sagte ich.
»Estelle ist nicht da.«
»Ihr Mann hat mir gesagt, sie sei auf Besuch hier.«
»Ihr Mann hat sich geirrt.«
Ranger trat vor, und die Frau stellte sich ihm in den Weg.
»Sind Sie Mrs. DeStefano?«, fragte Ranger.
»Ich bin Christina Gallone. Sophia DeStefanos Schwester.«
»Wir möchten gerne Mrs. DeStefano sprechen«, sagte Ranger.
»Sie empfängt keinen Besuch.«
Ranger drängte sie weiter in den Raum. »Ich glaube doch.«
»Nein!«, sagte Christina und zerrte an Ranger. »Sie fühlt sich nicht wohl. Sie müssen gehen!«
Aus der Küche trat jetzt eine Frau in den Flur. Sie war älter als Christina, aber die Ähnlichkeit war vorhanden. Sie trug das gleiche schwarze Kleid, die gleichen Schuhe und das schlichte silberne Kreuz. Sie war die Größere von beiden, das kurze braune Haar hatte graue Strähnen. Ihr Gesicht schien lebendiger als das ihrer Schwester, aber ihr Blick war leer, beängstigend, saugte Licht auf und strahlte keins aus. Mein erster Eindruck war, dass sie unter Medikamenten stand. Die zweite Möglichkeit war, dass sie verrückt war. Ich war mir ziemlich sicher, dass die Frau mit den unheimlichen Augen vor mir stand, die auf Mooner geschossen hatte.
»Was ist hier los?«, polterte sie.
»Mrs. DeStefano?«, fragte Ranger.
»Ja.«
»Wir würden uns mit Ihnen gern über das Verschwinden von zwei jungen Männern unterhalten.«
Die beiden Schwestern sahen sich an, und ich spürte ein Prickeln im Nacken. Links von mir lag das Wohnzimmer, es war dunkel und grauenhaft eingerichtet, mit repräsentativen polierten Mahagonitischen und schweren, brokatgepolsterten Sesseln. Die Vorhänge waren zugezogen, kein Sonnenstrahl drang ins Innere vor. Zu meiner Rechten befand sich
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