Mitternachtslöwe (German Edition)
Ende. Am Horizont loderten die Reste einer Stadt. Dichter Rauch stieg von ihr auf, verdunkelte den Himmel, verschmolz mit dem schwarzen Grund und bildete eine unendliche Ebene des Todes. Mittendrin stand Sophia, den Gestank des Leids auf ihrer Zunge schmeckend, bitter und kratzig kroch er ihr den Rachen hinunter. Direkt vor ihr trotzte ein unwirkliches Gespann dieser grauenhaften Umgebung. Mit weit aufgerissenen Augen genoss Vitus was sich um ihn herum zutat. Jeden kleinsten Hauch von Schmerz sog er gierig in sich auf, nährte sich daran. Neben ihm der Würger, groß und kräftig, strotzend vor Blutgier. Gezügelt wurde er von einer jungen Frau. Völlig entblößt saß sie auf dem Riesenwolf. Eine Schar geisterhafter Adler flog zu ihr heran und setzten sich auf ihren Körper nieder. Das Federkleid der Vögel legte sich auf die Frau nieder, floss an ihr herab wie Öl, bis es sie ganz in schwarz hüllte. Da erkannte Sophia das wahre Gesicht des Mädchens.
»Maria!«
Mit einem Ruck fand sich Sophia zurück auf dem Dachboden in dem kleinen Haus in Ulm. Nichts geschah, Lilith ruhte. So sehr Sophia sich auch anstrengte, so sehr sie sich im Hass tränkte, der nächtliche Dämon sträubte sich hervorzutreten.
Vitus wich zurück und streichelte seinen verletzten Liebling. »Teufelsweib!«, sprach Vitus zähneknirschend, »Du willst dein Mädchen?« Er packte ein kleines Bündel, welches dem Würger um den Hals hing und hielt es in die Höhe. Fest verschnürt schauten zwei kleine, traurige Augen aus den Lederriemen hervor. »Die Kleine ist sehr redefreudig, wenn man sie ein bisschen zwingt. Sie hat mir alles über eure lächerliche Idee von einem Löwen erzählt.«
Sophias Zorn löste sich, als würde ihr jemand daumendicke Nadeln aus dem Kopf ziehen. Sie senkte ihren Dolch. Völlige Leere füllte ihre Gedanken, davon geblasen, wie die Saat einer Pusteblume.
»Glaubt ihr wirklich mit ein paar Zaubertricks das Regime aufhalten zu können?« Vitus wurde lauter. »Die Armee des Adlers wandelt auf dieser Welt, herrscht über sie und jeder der sich anmaßt sich uns entgegenzustellen, bezahlt mit seinem kümmerlichen Leben dafür«, brüllte er siegessicher, vor Stolz erfüllt.
»Nicht solange es freie Menschen mit freiem Willen und freien Gedanken gibt, die sich nicht von solchem wahndurchtriebenen, machtgierigen Geschwätz unterkriegen lassen«, sagte Byrger überzeugt aus dem Hintergrund.
Für einen winzigen Moment fiel Sophias Vorstellung einer heilen Zukunft in sich zusammen. »Warum?«, wimmerte sie Vitus leid geplagt an, »Warum zerstört ihr so viele Leben? Was habt ihr von einer Welt, tot und in Blut ertränkt? Was bleibt euch noch, wenn niemand mehr da ist mit dem ihr sie teilen könnt?«
Böswillig funkelte Vitus Sophia entgegen, als wolle er ihr all die Übelkeiten, die Grausamkeiten und todbringenden Vorhaben des Regimes gegenüber der Welt direkt in ihren Geist senden.
Vorsichtig bohrten sich erneut, eine nach der anderen, die Nadeln in das fleischige Kissen ihres Kopfes, als Sophia sich abermals und vollends dem Zorn ergab. Sie stürzte sich auf Vitus. Seine Pranke packte Sophia am Hals. Verzagt streckte und reckte Sophia ihrer Tochter die Hand entgegen, griff nach dem Beutel. Um so mehr sie sich anstrengte, um so heftiger schloss sich Vitus' Griff, um so weiter entfernten sich die tränenden Äuglein des Mädchens von ihr weg.
»Schnapp dir den Zauberer!«, befahl Vitus seinem Wolfling und deutete in Byrgers Richtung. Allzu lange musste dieser schon still halten und vollführte mit überschwänglichstem Geifern das Wort seines Herren. Der Würger sprang auf Byrger zu und verschlang ihn gierig, wie ein ausgehungerter Köter aus der Gosse, der nach Tagen des Hungerleidens ein Stück bestes Fleisch vor die Füße geschmissen bekommt.
»Jetzt gibt es nur noch dich und dein Mädchen«, sagte Vitus, »Was wollt ihr, ein Weib und ein Gör, jetzt noch gegen das Regime des Adlers unternehmen?«
»Du... Mistkerl...«, quälte es sich Sophia über die Lippen. Vitus' Klaue schnitt ihr die Luft ab. Weiße Kleckse beschatteten ihr die Sicht, legten sich über ihren Augen, wie die tanzenden Feen, die sich nach einem zu langen Blick ins grelle Licht aus eines jeden Wahrnehmung davonzustehlen versuchen.
Aus dem Loch im Boden drang plötzlich lautes Geschrei und das Klimpern von Metal. Eine Schar Ulmer, bewaffnet mit Schwertern, Äxten oder einfach nur Heugabeln, stürmte das Haus. Mit ihren Geräten geboten sie dem
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