Mitternachtslust
Enttäuschung, weil auch dieses letzte Kräftemessen zu Alexanders Gunsten ausgegangen
war.
Wortlos riss sie die Tür auf und suchte das Weite. Allerdings musste sie auf dem schmalen Flur schon nach wenigen Schritten stehen bleiben, weil sie vor lauter Tränen nichts mehr sehen konnte.
Das hatte ihr gerade noch gefehlt! Gleich würde Alexander ebenfalls das Büro verlassen und sie heulend hier draußen antreffen. Und wenn sie mit tränenüberströmtem Gesicht durch die überfüllten Ausstellungsräume zum Ausgang lief, würde er es ebenfalls erfahren.
Hektisch wischte sie sich mit dem Handrücken über das Gesicht und steuerte die nächstbeste Tür an. Es war ihr egal, ob sie in einer Abstellkammer oder auf einem Hinterhof landete, solange niemand sie sah. Alles, was sie brauchte, war ein wenig Zeit, um sich zu beruhigen.
Erst als sie die Hand auf die Klinke der weiß lackierten Tür legte, sah Melissa die stilisierte Frauengestalt in Blickhöhe. Ausnahmsweise meinte es das Schicksal gut mit ihr: Sie hatte rein zufällig die Damentoilette gefunden, sodass es sogar einen Spiegel und Wasser geben würde, um sich wieder herzurichten, bevor sie nachher ruhig und gelassen durch die Ausstellungsräume spazieren und die Galerie verlassen würde.
Hinter sich hörte sie eine Tür klappen. Alexander!
Melissa stürzte in den Vorraum der Toilette. Eine Weile blieb sie erschöpft stehen, dann beugte sie sich über eines der Waschbecken und starrte ihr Gesicht im Spiegel an. Sie sah entsetzlich aus. Ihre Lider waren rot und geschwollen, die Haut fleckig. Die verlaufene Wimperntusche hatte schmale Zickzacklinien auf ihre Wangen gezeichnet.
Als sich hinter ihr die Tür öffnete, zuckte sie zusammen, wandte sich rasch ab, riss ein Papierhandtuch aus dem Spender und tupfte damit wie wild an ihren Augen herum.
»Melissa! Ich kann dich so nicht gehen lassen. Wir müssen miteinander reden – in Ruhe. Lass uns zusammen essen gehen. Robert wird mich bei den Gästen entschuldigen müssen.«
Als sie hörte, dass er ihretwegen die Eröffnung seiner Ausstellung verlassen wollte, spürte sie für einen kurzen Moment etwas wie Wärme in ihrer Brust, doch dann waren der Zorn und die Angst vor Verletzungen wieder da.
Sie vergrub ihr Gesicht tief in dem zerknüllten schwarzfleckigen Papierhandtuch. »Raus hier!«, rief sie. »Das ist eine Damentoilette !«
»Das ist mir egal«, teilte Alexander ihr ungerührt mit. »Ich gehe erst, wenn wir miteinander geredet haben, notfalls auch hier. Wir haben eben beide eine Menge Unsinn gesagt, weil wir wütend waren. Ich will das Haus gar nicht. Ich schenke es dir. Ich …«
»Jetzt bist du völlig übergeschnappt! Oder bist du betrunken?« Zwischen Melissas bebenden Fingern zerriss das Papierhandtuch, und sie griff hastig nach einem neuen, um ihr Gesicht darin zu vergraben.
»Hab keine Angst, mich zu lieben! Ich werde mir die allergrößte Mühe geben, dir niemals wehzutun, das verspreche ich.« Alexander machte einen Schritt in den Raum und ließ die Tür hinter sich zufallen.
»Zu spät! Das hast du schon längst erledigt!«, stieß Melissa hervor, während sie sich umdrehte, in die hinterste Toilettenkabine stürzte und den Riegel vorschob.
Wieder liefen ihr die Tränen in wahren Sturzbächen über die Wangen. Mit beiden Händen rupfte sie Toilettenpapier ab und fuhr sich damit ziellos durchs Gesicht. »Geh weg!«, schluchzte sie zwischendurch. »Ich will nicht mit dir reden, und ich will dich nicht mehr sehen.«
»Und warum heulst du dann wie ein Schlosshund? Komm sofort da raus, sonst komme ich rein!« Er klang sehr entschlossen.
»Das wagst du nicht!« Je krampfhafter sie das Schluchzen zu unterdrücken versuchte, desto lauter stieg es aus ihrer Kehle auf.
»Soll ich es dir beweisen?«
Unter der Kabinentür sah sie die Spitzen seiner schwarzen Schuhe. Er stand höchstens zehn Zentimeter von ihr entfernt. Zwischen ihnen war nur die dünne weiß lackierte Sperrholzplatte. Plötzlich sehnte sie sich unbändig danach, ihn noch einmal, ein allerletztes Mal, zu spüren. Aber sie wusste gleichzeitig, dass sie unter allen Umständen vermeiden musste, ihm zu nahe zu kommen. Denn sie hatte keine Ahnung, ob sie es schaffen würde, ihn noch einmal wegzuschicken. Und ihn wegschicken war genau das, was sie tun musste, wenn sie nicht von einer missglückten Beziehung in die nächste stolpern wollte.
»Untersteh dich! Ich rufe um Hilfe, wenn du das tust«, schluchzte sie.
Die Fußspitzen unter der
Weitere Kostenlose Bücher