Mittsommersehnsucht
zu erkundigen, ob es in diesem Fall Neuigkeiten gab.
»Danke, Carina. Es wäre gut, wenn es endlich Klarheit gäbe. Ich kann einfach nicht glauben, dass der Mann, den ich kennengelernt habe, ein Verbrecher ist.« Sie machte eine kleine Pause, dann fuhr sie fort: »Du hast ihn doch auch gesehen, denkst du, dass er der gesuchte Dieb ist?«
»Vorstellen kann ich es mir nicht, aber du weißt ja, man kann niemandem hinter die Stirn schauen. Wenn ich im Büro bin, werde ich mir das alte Fahndungsfoto noch mal intensiv ansehen und ein paar Nachforschungen anstellen. Komm bald, vielleicht weiß ich dann schon was.« Sie nannte Andrea ihre neue Adresse.
»Ich komme, sobald ich Zeit habe. Bis dann!«
Andrea legte das Telefon zur Seite und ging hinüber in ihr Zimmer, um die Schuhe zu wechseln. Wenn Björn sie gleich mit dem Boot abholte, war es ratsam, wetterfestes Schuhwerk anzuziehen.
Sie entdeckte das Mobiltelefon erst, als sie nach ihrer Wachsjacke griff, die sie gestern lässig über einen Sessel gelegt hatte. Darunter lag, silbrig glänzend und blinkend, Magnus’ Handy.
Es war eine ganz mechanische Reaktion, als sie auf die kleine grüne Taste drückte und nachschaute, welche SMS er erhalten hatte.
»Ich vermisse Dich unendlich. Wo steckst Du? Es gibt eine wunderbare Neuigkeit! 1000 Küsse, Lilian«
Nein! Nein! Nein! Da war kein wirklich konkreter Gedanke, nur dieses Nein !
Das Blut rauschte ihr in den Ohren. Die Konturen des Zimmers verschwammen vor ihren Augen, die sich mit Tränen füllten. Die Knie gaben nach. Mit einem wehen Laut, der sich anhörte wie der schmerzliche Ruf eines verletzten Tieres, sank sie auf ihr Bett. Das kleine Metallteil in ihrer Haut brannte, sie ließ es los und sah mit starrem Blick zu, wie es auf den Teppich fiel. Da lag es … blinkend. Klein und unscheinbar wirkend. Aber es hatte ihr Leben von einer Sekunde zur anderen zerstört.
39
D as Bett war viel zu eng, die Decke zu heiß, sie drohte unter ihr zu ersticken. Unruhig wälzte sich Andrea hin und her, stöhnte auf und richtete sich für Sekunden im Bett auf – um gleich wieder zurückzusinken und sich an die dumpf pochende Stirn zu fassen.
Und dann war da auf einmal Kim. Sie kam durchs Fenster, schob den Vorhang zur Seite und setzte sich auf ihr Bett. Das rote Mützchen leuchtete im fahlen Licht, die bunten Perlen, mit denen der Rand bestickt war, fielen auf einmal herunter, direkt auf Andreas Gesicht. Es war eine kühle, glänzende Schicht, die ihr immer mehr die Luft zum Atmen nahm.
»Komm mit.« Kim streckte die Hand aus. »Bei mir ist es schön. Das weiße Rentier wartet schon … wir können beide auf ihm reiten. Komm, Doktor Andrea! Komm mit!«
»Nein! Nein, ich kann nicht!« Sie wehrte Kims kleine Hände ab, doch die hielten ihre Finger eisern fest.
»Lass mich los!« Andrea setzte sich im Bett auf. Aus weit aufgerissenen Augen sah sie Birgit Nerhus an, die ihre Finger fest umschlossen hielt. »Du? Was ist los?« Ihr Blick ging zum Fenster. Es war geschlossen, die Vorhänge zugezogen. Von Kim keine Spur.
»Das frage ich dich.« Birgit sah Andrea kopfschüttelnd an. »Du hast im Schlaf laut geschrien, da bin ich hergekommen.« Sie legte ihr die Hand auf die Stirn. »Himmel, du hast ja Fieber!«
»Ach was! Mir fehlt nichts.«
»Wo, um Himmels willen, hast du dich so stark erkältet?«
»Gestern …« Aufstöhnend sank Andrea zurück. Mit einem Schlag kam die Erinnerung zurück. Magnus. Die Nachricht von Lilian auf seinem Handy. Die Fahrt hinüber zur Insel, wo der alte Olaf lag und mit dem Tod rang. Sie hatte nicht mehr viel für ihn tun können, er weigerte sich nach wie vor, in die Klinik zu gehen.
»Ich spüre es, meine Zeit ist gekommen«, hatte er gesagt und kurz nach Andreas Hand gegriffen. »Sag nichts mehr, es ist alles gut so, wie es ist. Danke, Doktor … mach es gut. Bleib hier bei uns.« Dann war er wieder in einen leichten Dämmerschlaf gefallen.
»Er müsste in die Klinik, hier kann ich gar nichts für ihn tun. Sein Herz … vielleicht kann ihm eine Operation noch helfen«, hatte sie zu Trine gesagt.
Doch die hatte den Kopf geschüttelt. »Ich hab meinen Mann angerufen, er sagt auch, dass wir Vaters Willen respektieren sollen. Er will daheim sterben, also soll es so sein.« Sie hatte Andrea bittend angesehen. »Kommst du dann noch einmal her, wenn es so weit ist?«
»Natürlich.«
Nach Olaf besuchte sie noch eine fünfzigjährige Frau, die mit Mann und drei Hunden auf einer Insel weiter
Weitere Kostenlose Bücher