Modemädchen Bd. 1 - Wie Zuckerwatte mit Silberfäden
elegante, müde aussehende Frau lässt uns herein. Edie überreicht ihr die Blumen, und sie dankt uns mit einem Lächeln. Ich schätze, dass sie nicht besonders häuftig welche bekommt.
»Ich bin Florence«, sagt sie. »Freut mich sehr, euch kennenzulernen.« Sie gibt uns die Hand.
In der Wohnung gibt es einen Hauptraum, von dem zwei Türen abgehen. In der Ecke ist eine Küchenzeile. In der anderen Ecke steht ein niedriger Tisch mit ein paar Sesseln und einem Hocker, wo wir uns hinsetzen sollen.
»Elizabeth!«, ruft sie laut, als würde sie mehrere lange Flure hinunterrufen. Die Tür, die aufgeht, ist ungefähr einen halben Meter von uns entfernt, und Krähe kommt heraus. Also ist Krähe Elizabeth. Verwirrend. Hinter ihr kann ich ein winziges Zimmererkennen, kaum größer als das Bett, und an den Wänden hängen vom Boden bis zu Decke Strickteile und Kleider in verschiedenen Fertigungsstadien. Wie Krähe dazwischen noch atmen kann, ist mir ein Rätsel.
Gehorsam kommt sie herein und hilft ihrer Tante, aus der Küchenecke Pappteller zu holen. Wir bekommen Chips, Kekse und Becher mit extrastarkem Tee gereicht. Mir fällt auf, wie kahl die Wände sind. Geboren in einem Haus, das praktisch eine Galerie ist, tut mir die Leere fast körperlich weh. Es gibt nur zwei Fotos in kleinen Holzrahmen auf dem Beistelltisch. Auf dem einen ist ein großer, eleganter Mann zu sehen, der aussieht wie die männliche Version von Florence, mit einer Frau und einem kleinen Mädchen – Krähes Familie, nehme ich an. Das andere ist ein Schulfoto von Krähe, ernst und wachsam und ohne ihre Accessoires.
Florence erklärt, wie dankbar sie uns ist, dass wir Zeit mit ihrer Nichte verbringen. Anscheinend hat sie sich doch keine Sorge wegen Sklavenhandel oder so was gemacht.
»Ich habe zwei Jobs und arbeite jeden Tag, wenn ich nicht krank bin. Ich bin so gut wie nie zu Hause, um für Elizabeth da zu sein. Und sie arbeitet auch so viel. Jeden Tag näht oder strickt sie was. Sie hat zwar Yvette« – die Frau »von Dior« –, »aber Yvette ist eine sehr, sehr alte Dame. Krähe braucht Gesellschaft in ihrem eigenen Alter. Sie braucht andere Kinder.«
Wir lächeln höflich. Vierzehnjährige lieben es, als Kinder bezeichnet zu werden. Genau das, was wir hören wollen.
Edie nimmt das Foto von dem Mann, der Frau und dem kleinen Mädchen in die Hand.
»Ihr Bruder?«, fragt sie.
»Ja. James. Er ist Lehrer. Ein sehr verantwortungsbewusster Mann. Er liebt England und alles, was englisch ist, nicht wahr, Elizabeth?«
Krähe nickt. Mich verwirrt die Elizabeth-Krähe-Geschichte. Krähe ist ein seltsamer Spitzname und hat so gar keine Beziehung zu ihrem richtigen Namen. Edie sagt, sie hätte nachgefragt, aber Krähe will nicht darüber reden. Macht dicht wie Harrison Ford bei einem Interview. (So hat Edie es natürlich nicht gesagt, aber so habe ich es verstanden.) Seltsam.
»Seine kleine Tochter heißt Victoria«, fährt Florence fort. »Die großen englischen Königinnen, versteht ihr? Er ist so stolz, dass Elizabeth hier ist und eine richtige englische Ausbildung bekommt.«
Ich sehe, wie Edie zusammenzuckt. Sie hat mit Krähe darüber gesprochen und weiß, dass eine Ausbildung alles andere als ideal ist, wenn man mit dreißig anderen in einer Klasse sitzt und neunzig Prozent von dem, was an der Tafel oder in den Schulbüchern steht, nicht lesen kann. Meistens sitzt Krähe an ihrem Pult, zeichnet ihre Hefte voll und hofft, dass sie keiner etwas fragt. Allerdings liebt sie Kunst.
»Kommt James auch irgendwann nach England?«, fragt Edie.
»Oh, nein. Er ist Lehrer in einem Lager für Flüchtlinge. Die kann er nicht im Stich lassen. Und Grace kann ihn nicht alleinlassen, und die kleine Victoria kann Grace nicht alleinlassen.«
»Warum …?« Ich weiß nicht, wie ich fragen soll, ohne unhöflich zu klingen. Einen Moment muss ich überlegen. Ich verstehe einfach nicht, warum es für Krähe besser sein soll, mit einer Tante, die nie da ist, hier in dieser winzigen Wohnung zu lebenals in ihrer Heimat bei ihrer Familie. Diese Frage scheint mir so bedeutend, dass es mir fast peinlich ist, sie zu stellen. Und ich kann die richtigen Worte nicht finden.
Edie bemerkt, wie ich um Worte ringe, und legt mir die Hand auf den Arm. Ausnahmsweise wirft sie mir den Blick zu, den ich sonst immer ihr zuwerfe: den »Sag jetzt nichts«-Blick. Wenn ich Edie mit diesem Blick ansehe, meine ich ernsthaft »halt den Mund«, also füge ich mich, obwohl ich immer noch
Weitere Kostenlose Bücher