Modemädchen Bd. 1 - Wie Zuckerwatte mit Silberfäden
gerne eine Antwort auf meine Frage hätte, und frage stattdessen, wie Krähe mit den neuen Stoffen zurechtkommt.
Offensichtlich war das die richtige Entscheidung. Hocherfreut springt Krähe auf und führt mich in ihr Zimmer, um mir alles zu zeigen. Edie und Florence lassen wir im Wohnzimmer zurück, damit sie sich unterhalten können.
Ich weiß nicht, wo ich hinschauen soll. Allein die Dimension des Zimmers – winzig; die Möbel – ein paar alte Büromöbel, darunter ein Aktenschrank; die Wände – voll mit wunderschönen Zeichnungen tanzender Mädchen, Bildern von Victoria und ausgerissenen Zeitschriftenseiten; und dann, wo man auch hinsieht, ihre fantasievollen Röcke und Kleider.
Krähe muss besessen sein. Sie hängen in mehreren Schichten übereinander. Schnittmuster. Probeversionen in billiger Baumwolle. Grelle Nylonversionen, und jetzt auch zarte Ausführungen in Seide, die aussehen wie geschmolzene Kunstwerke. Sie hängen an der Gardinenstange. Sie hängen an den Griffen des Aktenschranks. Sie sind über das Bett drapiert. Gefaltet auf und unter dem winzigen Schreibtisch, wo der einzige Gegenstand, den ich zwischen all den Stoffhaufen erkennen kann, eine alte, schwarze, handbetriebene Singer-Nähmaschine ist.
»Seit wann machst du das schon?«, frage ich.
»Seit zwei Jahren«, sagt Krähe. »Vorher habe ich nur gestrickt. Es war so kalt, als ich nach London kam. Aber dann bin ich mit Yvette ins V&A gegangen. Ich habe Balenciaga gesehen. Und Vionnet. Jetzt übe ich.«
Meine Güte. Und ich dachte, ich bin kreativ, wenn ich einen Kragen abschneide oder ein paar Pailletten (oder Tipp-Ex) auf ein T-Shirt klatsche. Neben diesem kleinen Mädchen bin ich eindeutig ein hoffnungsloser Fall und nicht mal dazu ausersehen, für einen Designer Tee zu kochen. Irgendwo finde ich eine leere Stelle auf dem Boden, wo ich mich hinsetzen kann, baff vor Erstaunen und dem ernüchterten Gedanken an meine bevorstehende Karriere bei McDonald’s.
Aber dann kommt mir eine Idee. Vielleicht gibt es doch etwas, das ich für sie tun kann.
»Darf ich mir ein paar Sachen ausleihen?«, frage ich. »Ich verspreche dir, dass ich alles wieder zurückbringe.«
Krähe zuckt die Schultern, was ich als Ja interpretiere. Ich nehme einen der neuen Seidenröcke und ein paar von Krähes Skizzen, die auf einem unordentlichen Stapel neben der Nähmaschine liegen. Ich muss nicht extra erwähnen, dass sie wunderschön sind. Leuchtende, filigrane Tänzerinnen, die in federleichten Kleidern und auf schwindelerregenden Absätzen über die Seiten stieben. Genau das, was ich zu zeichnen versucht habe, seit ich sechs bin. Krähe fragt nicht, wofür ich die Sachen haben will, aber auch wenn sie mich vielleicht für ein bisschen verrückt hält, scheint sie mir zu vertrauen, was mich tröstet.
Als wir aus dem Zimmer kommen, beenden Edie und Florence hastig ihr Gespräch. Beide wischen sich über die Augen.
»Vielen Dank«, sagt Florence und drückt mich an ihren starken Körper. Das Gleiche tut sie mit Edie.
»Dieses Mädchen ist ein Genie«, sage ich zu ihr. »Ganz im Ernst.«
Florence lächelt spröde. »In der Schule braucht sie Nachhilfe. ›Besondere pädagogische Bedürfnisse‹ nennen sie es.«
»Etwas Besonderes ist sie allemal.«
Diesmal zuckt Florence die Schultern. Wir lassen die beiden in der winzigen Wohnung zurück und gehen die Treppe hinunter, vorbei an dem Geruch von toter Maus und dann aus dem Haus. Drei Straßen weiter wohnen lauter Millionäre. London ist eine verrückte Stadt.
»Und?«
Edie sieht mich unschuldig an. »Und?«
»Was hat Florence gesagt?«
Wir sind bei Edie, und es ist spät. Ihr kleiner Bruder Jake ist schon seit Stunden im Bett. Ich schlafe bei ihr, und ihre Mutter hat uns gerade erklärt, dass »schlafen wirklich schlafen heißt«, aber wir haben uns noch so viel zu erzählen. Auf dem Rückweg von Florence und Krähe waren wir beide ziemlich schweigsam, aber jetzt will ich alles wissen, und Edie sucht gerade auf Google und Wikipedia die fehlenden Fakten der Geschichte zusammen, die Florence ihr erzählt hat.
»Sie hat mir bestätigt, was ich schon vermutet hatte«, sagt Edie mit mehr als einem Hauch von Selbstgefälligkeit.
»Und das war?«
»Tja, als ich letzte Woche mit dir darüber reden wollte, hast du gesagt, es wäre langweilig und geschmacklos.«
»Da habe ich gerade Gossip Girl gesehen«, verteidige ich mich.
»Offensichtlich war das wichtiger.«
»Es war eine Schlüsselfolge. Egal.
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