Moderne Piraten
fragen, wenn er in Erfahrung bringen könnte, wie der aussah, der hier seine Briefe abgeholt hatte! Doch er sah keine Möglichkeit. Jede Frage seinerseits mußte Verdacht erwecken, mußte die Sache, die schon schlimm genug war, noch schlimmer machen.
Mit kurzem Dank ging er vom Schalter fort und trat an eines der Schreibpulte. Hastig riß er den Brief auf und erblickte die krausen Buchstabengruppen der Chiffreschrift. Ein höhnischer Zug spielte um seine Lippen. Mochte die andern Briefe abgeholt haben, wer da wollte! Ohne den Schlüssel würde der doch nicht klug werden, ohne den Schlüssel, den nur die Wissenden besaßen. Aus der Brusttasche zog er ein winziges Heftchen und begann mit dessen Hilfe den Brief Wort für Wort zu entziffern. Der übliche Anfang! Er runzelte die Stirn. Wieder einmal hatte die Londoner Zentrale allerlei an seiner Arbeit auszusetzen. Sollten’s doch selber machen, die schlauen Herren in England, wenn sie alles besser wußten!
Er las weiter und merkte kaum, daß der Federhalter in seiner gekrampften Rechten wie ein Streichholz zerbrach. Was war das? Was schrieb die Londoner Zentrale da? Pfuscharbeit? Falscher Bericht? Der vermaledeite Lümmel, der Wagner, gesund und munter in Genf angekommen? Die Knie wankten ihm, schwer stützte sich sein Körper auf das Pult. Wagner lebendig in Genf? Hatte ihn die Hölle genarrt, damals, als er den Dampf in den Kessel ließ, als er den Todesschrei hörte? Wenn der noch am Leben war, dann wurde es am Ende Zeit, von hier zu verschwinden.
Nur allmählich gewann Henke so viel Fassung, daß er weiterlesen konnte: Der Junge und der Doktor jetzt in Genf – werden dort durch die Organisation erledigt – Luft rein – laufendes Geschäft in Gorla mit Nachdruck weiterbetreiben – starker Bedarf an Ware.
Er suchte sich mit Gewalt zur Ruhe zu zwingen. Sein Anschlag war mißlungen. Rätselhaft, vollkommen rätselhaft, wie dies möglich war! Doch es war so. Aber die Organisation war hinter den beiden her, würde hoffentlich – sicherlich, verbesserte er sich in Gedanken – Mittel und Wege finden, sie unschädlich zu machen. Während er den Brief und den Chiffreschlüssel in seine Brusttasche schob, faßte er den Entschluß, wenigstens vorläufig auf seinem Posten auszuharren.
Jenen Brief, der für van Hülsten bestimmt war und Gransfeld in die Hände fiel, hatte Megastopoulos selbst auf dem Genfer Bahnhof in den Postzug gesteckt. Er war dann in das »Hotel des Etrangers« zurückgekehrt. Bei einer Tasse Tee, die er sich in den Leseraum bringen ließ, zog er das Ergebnis der letzten Tage.
Dumm war die Sache in Yvoire. Es würde einige Mühe und Bestechungsgelder kosten, um da wieder alles in Ordnung zu bringen. Noch unangenehmer war aber die Geschichte mit Bouton. Es war wirklich unverantwortlich von Morton, sich derart hinreißen zu lassen. Es würde schwerhalten, auch diese Angelegenheit mit Geld wieder glatt zu machen. Jedenfalls mußte es versucht werden, und zwar möglichst schnell. Er beschloß, Bouton noch im Laufe des Tages aufzusuchen und die Sache wieder einzurenken. Morton durfte jedenfalls Bouton nicht wieder vor die Augen kommen. Megastopoulos kannte die Rachsucht dieser Romanen gut genug, um das vollkommen zu begreifen. Der Schotte mußte aus Genf verschwinden, sobald er das jetzige Unternehmen zu Ende gebracht hatte.
Megastopoulos warf einen Blick auf die Wanduhr. Zwei Uhr. Wenn alles gut ging, war Morton jetzt schon auf dem Gletscher, und wenn es diesmal endlich klappte … Unwillkürlich mußte er jenes Tages in Syut gedenken, an dem er George Gransfield zum letzten Male gesehen hatte. Die Statuette! Viel einfacher und gefahrloser würde sich der Verkauf tätigen lassen, wenn die verdammten Spürhunde endlich erledigt waren.
Der Hotelportier kam mit zwei Herren in den Lesesaal. Prüfend blickten die beiden sich um, sprachen leise ein paar Worte mit dem Portier und gingen dann geradeswegs auf den Griechen zu. »Paßkontrolle, mein Herr! Dürfen wir Ihren Paß sehen?«
Während Megastopoulos in die Brieftasche griff, überschlich ihn ein unangenehmes Gefühl. Gewiß, Paßkontrollen wurden bisweilen vorgenommen, doch weshalb kamen die Polizeibeamten zuerst zu ihm? »Bitte sehr, meine Herren!« Er hielt ihnen seinen Paß hin. Nach kurzer Prüfung gaben die Beamten ihn zurück. »Danke sehr! Ihre Papiere sind in Ordnung.«
Wieder sprachen die Beamten mit dem Portier. Megastopoulos strengte seine Ohren auf das äußerste an und hörte
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