Modesty Blaise 11: Die Lady spannt den Bogen
irgendwann eine Gelegenheit zur Flucht ergreifen würden, egal wie hoffnungslos oder verzweifelt ihre Situation war, weil sie ganz einfach nicht brav auf ihre Mörder warten würden. Nach einem gescheiterten Fluchtversuch wären sie jedoch entweder tot oder verwundet, und beides würde nicht in den teuflischen Plan der
Watchmen
hineinpassen. Sie waren in ›erstklassiger Verfassung‹ zu halten, bis man sie nach der bevorstehenden Aktion als Leichen zurücklassen würde, so hatte Oberon jedenfalls gesagt. Und das bedeutete, daß man sie bis dahin ohne Verletzungen, sogar ohne die Möglichkeit, sich selbst zu verletzen, hier festhalten würde.
Also …
Die Tür öffnete sich, und ein stämmiger Mann mit tiefliegenden Augen und vielen Furchen im Gesicht kam ins Krankenzimmer. Er trug eine graugrüne Uniform und hohe Schaftstiefel aus weichem, schwarzem Leder. Sein Gesicht kam ihr irgendwie bekannt vor, aber sie wußte nicht, woher. Oberon unterbrach sich und stand auf. Der Neuankömmling zwinkerte ihm zu und sagte ruppig: »Die Zeit ist um, kleiner Soldat. Hat’s Ihnen Spaß gemacht?«
Oberon lächelte zurück, und dieses Mal war sein Lächeln vollkommen natürlich. Er machte einen entspannten und beinahe schläfrigen Eindruck, dabei war er aber durchaus vergnügt, fast so, als hätte er gerade eine Frau gehabt. »Ich habe mir eine Menge von der Seele geredet, vielen Dank, Colonel«, antwortete er nur und ging dann auf die Tür zu.
Colonel – dieses Wort weckte eine Erinnerung in ihr, und sie wußte genau, sie hatte das Gesicht in den Akten des
Netzes
einmal gesehen, in der Kartei über Geheimdienste. Der Mann war Russe, ein KGB-Agent, mit dem sie einmal zu tun gehabt hatten, allerdings nicht von Angesicht zu Angesicht …
Willie flüsterte einen Namen, den nur sie hören konnte: »Golitsyn.«
»Lassen Sie Ihren Revolver lieber bei mir, mein kleiner Soldat«, sagte der Mann gerade. »Wir wollen doch mit den beiden kein Risiko eingehen, oder?«
Der Colt wechselte den Besitzer, und Oberon verließ den Raum. Golitsyn stellte sich zwischen die beiden Betten und musterte die Gefangenen mit unverhohlenem Interesse. Modesty beobachtete ihn ganz ruhig, wobei sie zu dem Schluß kam, daß es einer völlig anderen Strategie bedurfte, um aus diesem Mann etwas Brauchbares herauszubekommen. Oberons Redeschwall war durch die mangelnde Reaktion ihrerseits ausgelöst worden. Dieser Mann unterlag jedoch keinen heftigen Emotionen und war zu erfahren, um sich leicht täuschen zu lassen, aber er wollte selbst Informationen, also könnte es gut sein, daß er mit sich handeln ließ.
Er setzte sich in sicherer Entfernung auf einen Stuhl, die Automatic ruhte auf seinem Knie, und dann begann er mit einer heiteren, sympathischen Stimme zu sprechen. »Da hatten Sie ja ein ziemliches Pech, so direkt in eine von unseren Trainingslandungen in voller Montur zu geraten, was?«
Ihre Stimme klang leicht und unbeschwert, als sie ihm antwortete: »Ach, das macht eigentlich nichts. So etwas kann einem eben passieren, und darüber ärgern wir uns gar nicht mehr. Hast du nicht so einen Spruch, den du immer über das Ärgern zitierst, Willie?«
Seine Gedanken vermischten sich mit den ihren, und er wußte jetzt, wie sie das Spiel angehen würden.
»Ach, du meinst den: ›
Erzürne dich nicht über die Bösen
‹, stimmt’s?« erwiderte er, indem er sich zu ihr umdrehte.
»Ja genau, den meinte ich.«
»Psalm siebenunddreißig, Vers eins.«
Sie lachte kurz auf. »Glaub bloß nicht, daß ich mir das merke.« Die beiden sahen sich an, als hätten sie Golitsyn ganz vergessen, und der ertappte sich dabei, daß er sich krampfhaft anstrengen mußte, seine Verwirrung zu verbergen. Gerade hatte er sich entschieden, daß seine beste Taktik im Augenblick wohl im Schweigen bestand, da sah ihn Willie vom Bett her an und sagte: »Ich habe mich schon oft gefragt, ob Sie es wohl waren, der damals Raikow abgesägt hat?«
Golitsyn griff in seine Tasche und nahm Pfeife und Tabakbeutel heraus. Jetzt war er wirklich durcheinander. Raikow war seinerzeit sein größter Rivale im GPU gewesen, und es stimmte in der Tat, daß Golitsyn es damals in die Wege geleitet hatte, daß er wegen des Scheiterns eines wichtigen Projekts in Ungnade gefallen war, aber das konnte Garvin unmöglich wissen. Das
Netz
hatte tatsächlich sehr gute Informationen gehabt, da bestand gar kein Zweifel, aber es erschien ihm außerordentlich unwahrscheinlich, daß Willie sein Gesicht aus ein
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