Modesty Blaise 11: Die Lady spannt den Bogen
die Gefangenen jetzt bewachen, bis Mitternacht behalten, Colonel. Aber danach benötigen wir jeden Mann für die Probe unserer Aktion in allen Einzelheiten. Das dauert bis drei Uhr morgens, und nach Abschluß der Übung schläft die gesamte Truppe bis Mittag, damit sie morgen für Unternehmen
Morgenstern
ausgeruht ist. Ein oder zwei Leute vom Hilfspersonal kann ich Ihnen allerdings als Wachen zur Verfügung stellen, falls Sie Verwendung für sie haben.«
»Dazu würde ich nicht raten«, warf Oberon scharf ein.
Golitsyn grinste. »Das kann ich mir vorstellen«, bemerkte er mit onkelhaftem Humor, »vor allem, wenn Sie sich daran erinnern, was diese Frau zustande gebracht hat, als Sie sie auf diesem Kutter vor San Francisco als Gefangene hatten. Aber keine Angst, mein kleiner Soldat. Das gilt auch für Sie, Siegfried. Ich habe vor, gewisse Maßnahmen von unserem lieben Dr. Jakoubek durchführen zu lassen, sobald ich mich mit den beiden ein wenig unterhalten habe. Die Pharmakologen der Sowjetunion haben eine Reihe von ganz brauchbaren Betäubungsmitteln zur Verwendung in unseren psychiatrischen Anstalten herausgebracht, und heutzutage kommen die sichersten Handschellen nun einmal aus einer Injektionsspritze.«
St. Maur stand beim Fenster und blickte auf die dunklen Umrisse von Deserta Grande hinaus. »Da unsere Pläne ein intensives Verhör von Blaise und Garvin ohnehin nicht zulassen, warum wollen Sie dann Zeit damit vergeuden, sich mit ihnen zu unterhalten, Colonel? Hat doch nicht viel Sinn, oder?«
»Überhaupt keinen«, stimmte ihm Golitsyn zu. Er nahm seine Pfeife heraus und stopfte sie nachdenklich.
»Ich bin einfach neugierig, sonst nichts. Die zwei sind eben so eine Art Legende, und ich würde sie ganz gern einmal sehen und ein paar Worte mit ihnen wechseln, bevor sie sterben.«
Major Earl St. Maur drehte sich achselzuckend vom Fenster weg. »Wirklich erstaunlich«, sagte er wie zu sich selbst. »Auf jeden Fall liegt das natürlich völlig bei Ihnen.«
Oberon unterdrückte mit Mühe einen bittenden Unterton in seiner Stimme, als er sagte: »Ich wäre Ihnen sehr dankbar, wenn Sie mir gestatten könnten, auch einige Minuten lang mit den beiden zu sprechen, Major. Ich habe ein paar Dinge auf dem Herzen, die ich ihnen ganz gern sagen würde, bevor sie von der Bühne abtreten.«
Die blaßblauen Augen über der schmalen Hakennase musterten Oberon ausdruckslos. St. Maurs extremer Ehrgeiz war ebenso unbarmherzig und eiskalt wie ein Gletscher, und er konnte eine Regung wie Haß in anderen Männern nicht begreifen, aber er besaß die Menschenkenntnis eines Anführers und wußte, daß das Selbstwertgefühl dieses Mannes durch Modesty Blaise in hohem Maße erschüttert worden war. Trotzdem hatte man Oberon die Gelegenheit verwehrt, sie in einem ebenbürtigen Kampf zu töten, und es würde ihm keine Genugtuung bereiten, sie lediglich im bewußtlosen Zustand zu erschießen. Er hatte ein immenses Bedürfnis, sie das ganze Ausmaß ihrer Niederlage spüren zu lassen, ihr Todesurteil auszusprechen und dabei ihre Miene zu beobachten, ihr seine außerordentliche Karriere als Leiter der Einsatztruppe der
Watchmen
vor Augen zu führen, kurz: sie auf jede mögliche Weise zu erniedrigen, während er selbst sein verletztes Ego wieder aufrichten konnte.
Wenn Oberon diese Gelegenheit bekam, würde er am kommenden Tag mehr leisten, entschied St. Maur.
Er warf Golitsyn einen kurzen Blick zu, nickte leicht mit dem Kopf und hob fragend eine Augenbraue. Der Russe lehnte sich belustigt im Stuhl zurück. Da war sie wieder, dachte er, diese unerwartete Reaktion. Jeder, der St. Maur kannte, hätte darauf gewettet, daß er Oberons Bitte automatisch abschlagen würde, aber das hieße nichts anderes, als daß er ihn nicht gut genug kannte. In mancher Hinsicht war der englische Lord eben genial.
Golitsyn schenkte Oberon ein warmes Lächeln. »Sie sollen Ihren Spaß haben, mein kleiner Soldat. Ich gebe Ihnen zehn Minuten zum Plaudern mit den beiden. Aber nur zum Plaudern. Nicht anfassen, ist das klar? Und denken Sie immer daran, ich will sie in erstklassiger Verfassung.«
Das Schiffslazarett bestand aus einem sehr gut ausgerüsteten Operationssaal, wo auch Zahnbehandlungen vorgenommen werden konnten, und einem kleinen Krankenrevier mit acht Betten. Im Moment gab es zwar keine Patienten, aber zwei Betten waren dennoch belegt. In dem einen lag Modesty Blaise, die nur die schlichte schwarze Unterwäsche trug, die sie bei der Arbeit
Weitere Kostenlose Bücher