Modesty Blaise 11: Die Lady spannt den Bogen
über die Reling beugte und mit seinem Revolver auf ihn zielte. Er hörte zwei oder vielleicht auch drei Schüsse. Sie waren nicht sehr laut, weil der Wind den Knall davontrug, und er wurde offenbar nicht getroffen. Dann hörte er ihre Stimme dicht an seinem Ohr, ein keuchendes Flüstern: »Ben … kannst du mich hören?«
Er machte ein bejahendes Geräusch. Inzwischen war der Kutter sechzig Meter entfernt und drehte sich nach Backbord, so daß die Aufbauten Szabo die Schußlinie verdeckten. Christie hörte sie schwer einatmen, dann sagte sie rasch: »Falls sie zu dicht an uns herankommen, dann muß ich dich untertauchen, Ben. Versuch, dich nicht dagegen zu wehren. Begriffen?«
Diesmal konnte er ihr sogar eine gekrächzte Antwort geben. »Ja.« Sein Kopf war völlig klar, als hätte ihm das kalte Wasser die Lebensgeister zurückgegeben.
Die Schmerzen spürte er kaum noch, und wie in einem Rausch stieg Lachen in ihm auf, er lachte vor Erleichterung und aus Freude über dieses Wunder, das sie dort oben vollbracht hatte. Er hoffte nur, daß sie dem Kerl mit dem Bart das Genick gebrochen hatte, als er nach dem Tritt ins Gesicht zu Boden gegangen war. Der Schotte im Ruderhaus, den alle Sandy genannt hatten, würde jetzt mit dem Kutter eine Wende machen und dann die Suche nach ihnen beginnen. Szabo war der einzige, der momentan den Suchscheinwerfer bedienen konnte – falls es auf dem Schiff einen gab. Hans war tot, dafür hatte sie gesorgt, und das Schwein mit dem Bart würde mindestens noch ein paar Minuten lang außer Gefecht sein. Wenn Modesty die Strömungen in der Bucht von San Francisco kannte, dann wußte sie auch, daß die Ebbe sie im Augenblick nach Westen trieb, und sie würden schon eine gute Strecke in diese Richtung zurückgelegt haben, bevor ihre Verfolger das Wendemanöver beendet hatten … aber … oh, Mist, verdammter, die wußten ebenso über die Strömung Bescheid, und jetzt kam der Kutter direkt auf sie zu, nicht weiter als dreißig Meter entfernt, und er schwamm auf dem Wasser, halb durch seinen Auftrieb und halb gestützt von dem Körper unter ihm.
Ihre Hände legten sich über sein Gesicht. »Tief einatmen, Ben.« Eine Handfläche mit einem Verband verschloß ihm den Mund, und zwei Finger hielten ihm die Nase zu, dann zog sie ihn geräuschlos unter Wasser.
Plötzlich bekam er Angst, daß er die Atemnot nach kurzer Zeit nicht aushalten könnte und dann die Kontrolle über sich verlieren und sich losreißen würde.
Aber als sie untertauchten, hatte er ein kühles, unbeschwertes Gefühl in der Brust, und nach kurzer Zeit glitt er zu seiner Erleichterung in einen tiefen, dunklen Schlaf.
Ihre innere Uhr irrte sich nie, und sie wußte, daß es eine Stunde nach Mitternacht sein mußte. Die Wolkendecke war ein wenig aufgerissen. Dahinter sah sie die schmale Sichel des Mondes und ein paar Sterne. Sie waren jetzt näher bei der Brücke als noch vor zwei Stunden, weil inzwischen die Flut eingesetzt hatte, aber sie waren in diagonaler Linie in die Öffnung der Bucht getrieben worden, und sie hatte nur wenig Hoffnung, das Ufer noch irgendwo auf dieser Seite der Golden Gate Bridge zu erreichen. Mit viel höherer Wahrscheinlichkeit würden sie vom Sog der Kabbelung erfaßt werden, die unter der Brücke hindurchströmte, aber dagegen konnte sie nichts unternehmen. Es wäre nur nutzlose Energieverschwendung, wenn sie versuchte, mit Ben Christies Last an Land zu schwimmen.
Die Suche nach ihnen hatte nur etwa zwanzig Minuten gedauert, dann war die Barkasse mit voller Fahrt zurückgekommen, ohne Zweifel über Funk von der
Old Hickory
herbeigerufen. Zu diesem Zeitpunkt hatte sie kaum noch Sorgen wegen einer möglichen Entdeckung gehabt, denn sie waren mittlerweile über vierhundert Meter von dem Fischkutter abgetrieben. Die Barkasse beteiligte sich auch nicht an der Suche, sondern machte nur für wenige Minuten längsseits fest und entfernte sich dann mit ziemlicher Geschwindigkeit auf die offene See hinaus. Von ihrem ungünstigen Blickwinkel dicht an der Wasseroberfläche konnte sie nur schwer erkennen, was sich tat, aber sie hatte den Eindruck, auch die
Old Hickory
nahm jetzt Kurs aufs Meer.
Oberon würde sich einen Fluchtplan zurechtgelegt haben, wahrscheinlich einen Treffpunkt mit einem anderen Schiff. Diese Frage beschäftigte sie jetzt nicht.
In den ersten Minuten der Suchaktion hatte sie Ben Christie zweimal untertauchen müssen. Gleich beim ersten Mal hatte er das Bewußtsein verloren und vom zweiten
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