Möhrchenprinz - Roman
vor einem Autohaus gegen die deutschen Luxus-Spritschleudern? Oder am Flughafen gegen Billigflieger oder gegen schlechtes Essen in Schulkantinen oder von mir aus auch gegen blütenweißes Klopapier im Landtag. Aber nein, das war ihm wohl nicht aufregend genug. Richtigen Spaß machte ihm der Aktionismus nur, wenn er aus erster Hand mitbekam, wie das Opfer litt.
Ich fragte mich, woher mein Bruder sich das Recht nahm, mir mein Leben dermaßen zu versauen? Noch vor wenigen Wochen hätte ich allen Grund gehabt, Daniel jedes einzelneDetail seines Lebenswandels vorzuwerfen. Die ständigen Flugreisen, seinen Fleischkonsum, seine Wegwerfmentalität, seinen Konsumrausch, seinen Raum- und Energiebedarf … Und jetzt das!
Ich schreckte um zehn nach sieben aus unruhigem Schlaf hoch, sah auf die Uhr, verfluchte mich selbst, weil ich gestern Abend vergessen hatte, den Wecker wieder anzustellen, und wollte ins Bad. Keine Chance.
»Geh wieder schlafen«, tönte die Stimme meiner Mutter aus dem Bad. »Ich brauche jetzt einfach mal ein bisschen Zeit für mich.«
Sie ließ sich nicht erweichen, blieb in der Badewanne liegen und zwang mich zu einer Katzenwäsche am Spülbecken in der Küche. Auf dem Weg zur Haltestelle kaufte ich einen Kaffee und ein belegtes Brötchen in der einzigen Bäckerei, die am Feiertag so früh geöffnet hatte, und verschlang dieses grässliche Frühstück in der Straßenbahn. Bei jedem Bissen schmiedete ich Mordpläne.
Meine Mutter würde ich in der Badewanne ertränken, das war klar. Aber welche Tötungsart wäre für Daniel angemessen? Etwas Schnelles, Sauberes, vielleicht gar Schmerzfreies kam nicht in Frage. Sein Tod müsste vielmehr sehr, sehr langsam und qualvoll sein. Ich nahm mir vor, spätestens am nächsten Tag in der Buchhandlung nach dem blutrünstigsten Serienmörder-Thriller zu schauen. Ich würde mich beraten lassen, welcher Krimi den grausamsten, schmerzvollsten Todeskampf bot, würde fragen, wie kompliziert die Nachahmung wäre (ich besaß schließlich weder Folterinstrumente noch eine abgelegene Hütte, in der ich Daniel langsam verhungern lassen konnte), und würde dann eine Auswahl an passender Lektüre kaufen. Die würde ich genussvoll lesen und mir Notizen darüber machen, was zu beachten wäre, damit niemand Daniels Leiden verkürzen könnte. Wenn ich ihn zum Beispiel mit Honig bestrichenan einen Baum binden wollte, an dessen Fuß ein Ameisenhaufen stand, dann sollte ich das nicht am Rundwanderweg A1 im Aaper Wald machen, denn da kamen ständig irgendwelche Jogger, Hundefreunde oder Spaziergänger vorbei. Sicher gab es weitere Vorsichtsmaßnahmen, die es zu beachten galt und die mir allein nicht in den Sinn kämen. Deshalb die Unterstützung aus den Kriminalromanen. Leute, die so etwas schrieben, waren schließlich gewissermaßen Experten auf dem Gebiet von Mord und Totschlag und gaben – im Gegensatz zur Polizei – gern und beredt Auskunft.
»… bietet das Fleisch wild lebender Tiere eine nachhaltige und ökologische Alternative. Die Tiere leben in ihrem natürlichen Ökosystem, das sie aufrechterhalten. Durch die Beweidung verhindern sie die Verbuschung der Savannenlandschaft, sie sind Teil des Gleichgewichts aus Jäger und Beute und werden nur im Fall einer Überpopulation zur Bejagung durch den Menschen freigegeben. Die natürliche Nahrungskette bleibt, ebenso wie das Ökosystem, vollständig intakt.«
PS lehnte sich zufrieden zurück und betrachtete mich mit einem siegessicheren Lächeln.
»Den Absatz setzen wir auf unsere Homepage und den wirst du in Zukunft bei jedem Infopaket, jedem längeren Text und überall, wo es sich anbietet, mitliefern.«
Ich nickte erschöpft. Drei Stunden hatten wir an dem Text gearbeitet. Ursprünglich wollte PS schreiben, dass für unser Wildfleisch kein Baum gefällt und kein Sojafutter angebaut wurde, aber diese Art von Negativ-Aussagen gingen immer nach hinten los. Nur mühsam hatte ich ihn davon überzeugen können, obwohl er bisher den Eindruck gemacht hatte, diese Mechanismen zu kennen. Ob auch bei ihm langsam die Nerven dünn wurden?
Meine Nerven jedenfalls hingen am letzten, seidenen Faden.Wenig Schlaf, keine Dusche und nur ein pappiges Brötchen, dessen Remouladensauce mir immer wieder aufstieß, waren keine gute Grundlage für harte Arbeit am Feiertag. Nun, immerhin hatten wir jetzt etwas vorzuweisen. Ich unterdrückte ein Gähnen. PS blickte auf die Uhr. Prima, sicher hatte auch er am Feiertag noch etwas anderes vor, daher
Weitere Kostenlose Bücher