Möhrchenprinz - Roman
ich kapiert hatte, wie Tin-Tin zu dem Küken gekommen war. Und das war so passiert:
Daniel und seine Aktionsgruppe hatten eine Lieferung Küken aufgekauft, die eigentlich für einen Legebetrieb gedacht gewesen waren. Zwanzigtausend Tiere. Die putzigen gelben Flauschebälle hatten sie dann in einen riesigen Drahtkäfig mitten auf die Rheinpromenade gesetzt und Passanten angeboten. Als »Brathähnchen« für drei neunundneunzig oder als Legehenne für hundertzwanzig Euro.
»Hundertzwanzig Euro für ein Huhn?«, fragte ich unkonzentriert, denn ich war mit meinen Gedanken bereitswieder bei meiner Werbekampagne, die am Tag unserer Rückkehr aus Namibia starten sollte.
»Weil eine Legehenne in Bodenhaltung zwischen dreihundert und dreihundertdreißig Eier im Jahr legt und ungefähr zwei Jahre lebt. Das macht sechshundert Eier à zwanzig Cent«, erklärte Tin-Tin mir mit ernstem Gesicht. »Wenn es im Käfig leben müsste, würde es nur ein Jahr legen, aber das ist ja nicht gut für das Huhn.«
Daniel hatte einen Verkaufsstand aufgebaut, auf dem er zur Illustration seines Angebotes zwei Küken in Käfigen mit dem nötigen Zubehör zeigte. Das Küken, das zum Brathähnchen werden sollte, wurde gezeigt mit einer Lampe und einem Sack Futter (»ausreichend für sechsunddreißig Tage, länger lebt ein Brathähnchen nicht«), das Legehennenküken mit sechzig Eierkartons für je zehn Eier und einem deutlich größeren Sack Legemehl.
»Legemehl«, wiederholte Tin-Tin angewidert. »Ich hatte immer gedacht, dass Hühner Körner vom Boden picken. So sah das jedenfalls früher in meinen Bilderbüchern aus.«
Inzwischen hatte mich die Erzählung so weit gefesselt, dass ich aufmerksam lauschte. Ja, Daniel hatte ein Händchen für plakative Informationsvermittlung. Wer sich für das Thema interessierte, wusste, dass ein Brathähnchen in nur fünf Wochen gemästet wurde. Eigentlich konnten Hühnchen gar nicht so schnell wachsen, weil sie bei Dunkelheit schlafen. Wenn man sie aber zwanzig Stunden am Tag beleuchtet, schlafen sie weniger und fressen mehr und dann erreichen sie das Schlachtgewicht schon nach sechsunddreißig Tagen. In unserer WG hatte es nie Brathähnchen und auch nur ganz selten Biogeflügel gegeben, weil wir natürlich Bescheid wussten.
»Meine Lehrerin hat mit den Leuten geschimpft, weil sie die Küken verkaufen, aber die waren gar nicht zum Verkauf gedacht. Das war nur eine Protestaktion. Die Kükensind am Abend auf einen Bauernhof gebracht worden, wo sie jetzt leben.«
Daniel hatte also sein altes Tradingmodell auf eine Ladung Küken angewandt, vermutlich allerdings ohne Gewinnmitnahme – ich musste ein Grinsen unterdrücken.
»Meine Lehrerin hat den Leuten aber gesagt, dass sie ein paar von den Küken für den Schulgarten haben möchte, und dann hat sie uns heute gefragt, wer sich um die Küken kümmern will. Und jetzt haben Jenny und ich jede ein Küken und Kevin, Bülent und Sofia haben auch eins. Das darf man aber nicht die ganze Zeit streicheln.«
Diese Regel gefiel Tin-Tin offensichtlich gar nicht, aber sie saß hier auf meinem Stuhl, statt im Schulgarten Küken zu streicheln, also hielt sie sich wohl daran.
»Habt ihr denn einen Hühnerstall in der Schule?«, fragte ich überrascht.
»Der Hausmeister baut einen. Bis dahin wohnen die Küken in einem großen Karton in unserer Klasse. Deshalb müssen wir jetzt auch immer leise sein, auch in den Pausen, und auch die Jungen dürfen nicht schreien oder mit Sachen werfen, weil sie ja die Küken treffen könnten.«
Ich stellte mir vor, wie der Klassenrowdy, den es sicher in jeder Schule gab, die Küken ärgerte, wenn niemand hinsah. Sie mit Filzstiften anmalte oder Klebstoff in den Karton strich, damit sie daran hängen blieben … Aber vielleicht liebten alle Kinder die kleinen flauschigen Piepmätze und niemand tat ihnen etwas zuleide. Die Lehrerin jedenfalls wusste hoffentlich, was sie tat.
»Das ist prima, weil ich ja bei meinem Opa kein Tier haben kann. Er ist gegen Tierhaare allergisch und ein Huhn soll man nicht in der Wohnung halten.«
»Wer kümmert sich denn in den Schulferien um die Hühner?«, fragte ich.
»Frau Grimm und ihr Papa. Der hatte früher Hühnerund Pferde und so, aber jetzt wohnt er auch in der Stadt und die Tiere fehlen ihm, hat die Lehrerin gesagt. Der weiß auch, was sie fressen dürfen und was nicht, und das bringt er uns bei. Er kommt jeden Tag und schaut nach, dass alles in Ordnung ist.«
Mir schien die Lehrerin an alles
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