Mörder Quote
Abend lief nach Tanyas Gefühl erst mal ohne Probleme durch. Nachdem das Pitterchen sich »spontan« bereit erklärt hatte, den Riff Raff in der Eröffnungsnummer zu übernehmen und der Time Warp dadurch irgendwie im Kölner Karneval gelandet war, warfen sich alle Kandidaten in die ganz großen Musicalgefühle. Mephisto räumte erwartungsgemäß ab mit dem »Phantom der Oper«, Lilly berührte mit »Memory«, und Sascha lag richtig mit der Vermutung, dass »Aquarius« ein bisschen zu lange her war. Fatima betonte mit »Out here on my own« aus »Fame« ihren Außenseiterstatus, und Mike D zog sich mit »We will rock you« aus der raplosen Musical-Welt-Affäre. Wieder ganz oben war Xena. Mit »Defying Gravity« aus »Wicked« hatte sie zwar ein unbekannteres Musical gewählt, dafür aber das großartige und für ihr Image perfekte Kostüm der bösen grünen Hexe bekommen, samt Besenstiel und Hakennase. Zu wirklich sehr gut gesungenen Noten schwebte sie hoch über der Bühne, und Tanya machte sich schon mal eine kleine Notiz – dieses Mädchen würde in der Show sehr weit kommen. Das fanden alle – außer Marco Deutz. In seiner beliebten frauenverachtenden Art nahm er sich heute Xena vor. »Also pass mal auf, du Fledermaus«, hob er an, »singen kannst du ja, aber …«, (und hier machte er eine seiner gefürchteten Pausen), »du siehst einfach kacke aus!« Das Wort »Kacke« sprach er wie immer mit norddeutschem Akzent, sodass daraus ein noch ekligeres »Kagge« wurde. »Hab ich recht, oder hab ich recht?« Mit einer seiner berühmten Catchphrases drehte er sich auffordernd zum Publikum um.
»Du hast recht!«, schrien das Volk und das marcohörige Pitterchen im eingeübten Ritual zurück.
»Wie sieht sie aus?«
»Kagge!«
»Ich kann euch nicht hören!«
» KAGGE !«
Tanya hatte Xena noch nie so gelobt wie nach Marcos Fanale Grande. Aber komischerweise schien die böse Hexe des Ostens gar nicht wütend oder verletzt zu sein, eher in irgendeiner Absicht bestätigt. Sie nahm zwar huldvoll Tanyas Komplimente entgegen, aber gleichzeitig glitt ihr Blick zu den anderen Kandidaten, die in ihrer Ecke dem Ganzen zusahen. Aus dem Augenwinkel bemerkte Tanya, wie Mephisto den Daumen hob. Er und Xena schienen jeden Tag unzertrennlicher zu werden. Sie saßen immer nebeneinander, posierten zusammen, und oft verschwand inzwischen auch Xena direkt nach der Show mit ihrem Gefährten aus der Geisterwelt. Ob sie inzwischen wusste, wer sich hinter der Maske verbarg? Hielten die schwarzen Mächte der Show zusammen?
Tanya versuchte sich wieder auf Chantal zu konzentrieren, die sich jetzt mit großen Gesten, aber schmalen Stimmbändern durch die größte Soulballade der Musicalgeschichte mühte: »And I am telling you I am not going« aus »Dreamgirls«. Aber hier hatte sich Chantal, früher Charlie, eindeutig überhoben. Obwohl sie mimisch und gestisch alles einsetzte, was sie in hundert Travestieshows gesehen hatte (am Boden knien, Hände zum Himmel recken, Hände auf den Boden trommeln), war dies nun mal keine Vollplayback-Show, sondern sie sang live. Und da wurde gerade aus dem »Dreamgirl« eher ein Alptraummädchen. Das würde eng werden für sie am Schluss der Show. Tanya tippte darauf, dass Chantal und vielleicht sogar Sascha bei den letzten beiden landen würden. Wenn Uwe jetzt nicht versagte.
Der ehrliche Rocker hatte sich seit der katastrophalen Probe, die am Set natürlich in Lichtgeschwindigkeit die Runde gemacht hatte, die ganze Woche ruhig verhalten. Tanya war von Uwes politischer Ausrichtung nicht überrascht worden, sie kannte schließlich Peters Tricks und Schliche. Und trotzdem war ihr der »ehrliche Rocker« noch unheimlicher geworden mit seinen ewigen Jeans und den zu kurz geschnittenen blonden Haaren. Auf ihrem Ablauf sah sie, dass er sich, aus allen möglichen Liedern der Musicalwelt, ein Lied aus »Cabaret« ausgesucht hatte – »Money makes the world go around«. Eine ungewöhnliche Wahl und eigentlich im Musical auch ein Duett und kein Solo, aber vielleicht wollte ja der Ossi seine Kapitalismuskritik in der Show unterbringen. Und wenn es je einen Ort gab, der Kapitalismuskritik verdient hätte, so musste Tanya sich innerlich lächelnd eingestehen, dann diese Show.
»Ich darf nicht rausfliegen, ich kann noch nicht rausfliegen!« Seit seinem vermurksten Ausflug in die Hippiewelt war Sascha panisch. Nun saß er da, Lied für Lied, in seinem mit Blumen bestickten Jeansoutfit und konnte nicht mehr klar denken.
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