Mörder Quote
verarbeitet hatte. Heute liebte sie ihre Mutter dafür, dass sie ihr gegenüber absolut ehrlich war und immer genau das aussprach, was sie gerade dachte. Als zu langer und dünner Teenager war das noch anders gewesen. Damals hatte Tanya unter all der Ehrlichkeit entsetzlich gelitten.
»Meine Tochter, der Besenstiel.« Das war die Lieblingsintroduktion ihrer Mutter allen Fremden gegenüber in dieser Zeit gewesen. »Kein Arsch und keine Tittchen, genauso wie Schneewittchen«, pflegte sie manchmal noch nachzulegen, wenn sie gut gelaunt war, bevor sie mit einem aufmunternden »Aber das wird sicher noch!« Tanya an den Ohren knuddelte.
In diesen Momenten – so hatte Tanyas Therapeutin für viel Geld herausgefunden – hegte die kleine Tanja damals Mordfantasien. Die sie aber später im Leben in Ehrgeiz sublimiert und ihr so zu einer großen Karriere verholfen hatten. Vielleicht war das ja von Anfang an der Plan ihrer Mutter gewesen, und alles war genauso gekommen, wie es sich eine alleinerziehende Mutter in Stolberg in den 80ern gewünscht hatte: meine Tochter, Model und Moderatorin. Diesen Gedanken hatte Tanya noch nicht einmal ihrer Therapeutin verraten.
»Jetzt komm erst mal rein, Kind, ich mach dir einen Kaffee! Und wisch dir die Pampe aus dem Gesicht, du siehst aus wie eine Nutte, die in den Malkasten gefallen ist.«
Kaffee war in der Welt von Tanyas Mutter das Allheilmittel gegen jede Form von Kummer, deshalb konnte man ihn auch nachts um zwölf Uhr trinken. Wie ihre Mutter nach all dem Koffein allerdings schlafen konnte, hatte Tanya bis heute nicht herausgefunden. Ob ihre Mutter von dem Konzept »Schlaf« überhaupt etwas hielt, wusste sie auch nicht. Sie hatte sie jedenfalls nie schlafen gesehen.
»Nein danke, lieber ein Bier!«, rief sie, während sie sich im Bad schnell abschminkte und zum Abschluss eine Extraportion eiskaltes Wasser über ihr müdes Gesicht schüttete. »Und wenn du es wissen willst – ja, jemand ist gestorben! Eine Kandidatin!«
»Als ob ich das nicht wissen würde. Ich hab doch die Sendung gesehen, Kind!« Ihre Mutter stand mit einem Bier und einem Kaffee hellwach und neugierig in der Tür. »Ich verpasse nie eine Sendung von dir! Das war eben nur ein Witz. Komm, wir setzen uns in den Salon.«
Tanya schüttete noch eine Portion Wasser nach. Die Witze ihrer Mutter hatten ihrer Therapeutin einen Anbau finanziert.
Der »Salon« war das Wohnzimmer des Hauses, das Tanyas Mutter mit einer teuren, aber unbequemen Mischung aus 80er-Jahre-Designermöbeln und alten Erinnerungsstücken dekoriert hatte. Tanya setzte sich in den bequemsten Sessel, der noch aus dem alten Haus ihrer Kindheit stammte, der aber auch inzwischen mit unfassbar teuren Versace-Stoffen (Tanya erinnerte sich noch genau an die Rechnung) mit Medusenhäuptern und Mäandern aus Schlangen in einen Vorstadt-Pompeji-Thron verwandelt worden war. Einen Moment lang sah Tanya vor ihrem inneren Auge Lillys Mutter in ihrem pinken Leoparden-Jogging-Outfit auf diesem Sessel sitzen, und es schüttelte sie.
»Ist dir kalt, Kind? Obwohl du wieder ganz schön zugenommen hast. An der Fettschicht kann es also nicht liegen. Ich dachte mir das schon, als ich dich vorhin in der Sendung gesehen habe.«
Tanya war zu müde, um überhaupt noch auf die mütterlichen Doppelmeldungen einzugehen. Sie kam zum Wesentlichen. »Mama, das Mädchen ist nicht die einzige Tote in der Produktion! Letzte Woche ist der PR -Chef gestorben, in der Woche davor ein Fotograf. Und dann ist noch ein Maskenbildner ums Leben gekommen!« Tanya hatte sich nicht überlegt, warum sie ausgerechnet ihre Mutter in ihre dunklen Gedanken einweihen wollte. Aber bei ihr war sie sich sicher, dass sie nicht mit der Presse sprechen würde. Vielleicht als einzige Person, die sie kannte.
»Der nette PR -Mann? Dieser Holländer? Was ist denn passiert?« Ihre Mutter war wahrscheinlich die Einzige im Umkreis von hundert Kilometern um Peter de Bruyn, die ihn als »nett« bezeichnet hatte. Vielleicht hätte Tanya ihre Mutter zu Peters Beerdigung einladen sollen. Es waren noch weniger Menschen gekommen als bei Mausi Schmitz.
»Drogen. Er hat immer zu viel gekokst. Und dann wohl einmal viel zu viel«, gab Tanya zurück.
»Ich sach dir, dat is Teufelszeug«, seufzte ihre Mutter und schüttete sich ungerührt einen Baileys in ihren Kaffee. »Wer dat macht, is selber schuld. Du nimmst doch immer noch hoffentlich nix?«
»Nein, Mama«, sagte Tanya im Tonfall einer mauligen Sechzehnjährigen und
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