Mörderspiel
nicht gemerkt. Der Schnee war eine einzige windgepeitschte wirbelnde weiße Masse.
„Joshua!“ rief sie. Doch er schien sie weder zu hören noch zu sehen, noch schien er auf sie zu achten. Sollte sie zurückreiten und ihn holen? Aber sie konnten nicht umkehren. Sie durften keine Zeit verlieren. Nicht mit dem bewusstlosen Brett, der möglicherweise unter Schock stand und noch einen langen Ritt durch die Kälte vor sich hatte.
Unschlüssig blickte sie zu Jon, der rasch voranritt. Sollte sie ihn rufen? Sie drehte sich noch mal zu Joshua Valine um und stellte erleichtert fest, dass er auf sein Pferd stieg und ihnen folgte. Sie wandte sich schnell wieder ab. Ein Instinkt riet ihr, ihn nicht wissen zu lassen, dass sie ihn beobachtet hatte.
Sie ritten schweigend weiter, bis sich schließlich das Schloss wie ein dunkler Schatten aus dem Meer aus Weiß erhob. Sie waren fast zu Hause.
„So ein Mist! Auch das noch!“ schimpfte Susan aus einigen Schritten Entfernung. Ihre Stimme klang schneidend in der plötzlichen Dunkelheit. Sie war nicht sehr weit gekommen, ehe die Lichter ausgingen.
Dann hörte V.J. noch etwas anderes. Ein Schwirren und Rascheln, als rausche ein Cape vorbei und berühre sie fast.
Ein Cape?
Jack the Ripper?
Jack the Ripper, lebendig und im Horrorkabinett Amok laufend? Sie waren alle so überzeugt gewesen, dass Susan übertrieb und ihre Fantasie ihr Streiche spielte. Aber könnte sich nicht jemand im Ripper-Kostüm ganz in der Nähe versteckt haben? Feixend und lachend bei dem Gedanken, dass er – oder sie – nur auf den Stromausfall zu warten brauchte, und sie alle wurden zu Lämmern auf der Schlachtbank: hilflos, die idealen Opfer?
Ein zweiter Schrei durchdrang die Dunkelheit, und V.J. fürchtete, einer Herzattacke zu erliegen.
Doch es war nur Susan, und ihrem Aufschrei folgte ein Fluch. „Du hast mich verbrannt, verdammt!“
„Ja, verdammt, du stehst auch fast auf mir drauf!“ schimpfte Thayer zurück, als sein aufflammendes Feuerzeug ihnen einen kleinen Lichtstrahl lieferte.
V.J. strengte in der Dunkelheit die Augen an. Jack the Ripper stand genau dort, wo er sein sollte. Albernes Weib! verspottete sie sich.
„Hier – eine Laterne.“ Tom nahm eine altmodische Kerzenlaterne von einem Haken neben der Tür. „Wahrscheinlich fällt hier bei fast jedem Sturm die Elektrizität aus. Das Ding sieht aus, als wäre es vor gar nicht langer Zeit benutzt worden.“
„Da ist noch eine“, bemerkte Joe.
Mit den flackernd brennenden Laternen war das Horrorkabinett schnell wieder erleuchtet, sogar heller als zuvor.
„Ich sage euch, jemand ist…“ begann Susan.
„Ach Susan!“ schnitt Joe ihr das Wort ab und strich sich ungehalten über den Bart. „Schneestürme sind höhere Gewalt, und Stromausfall ist ein Versagen der Technik. Keines von beidem ist eine Verschwörung gegen Susan Sharp.“
„Lass mich doch mit dem Sturm in Ruhe!“ Sie ging zu Thayer und schnappte sich seine Laterne. „Der ist geradezu eine Lappalie verglichen mit dem Hurrikan, der sich um die kleine Miss Camy Clark zusammenbrauen wird!“
Erneut verließ sie das Horrorkabinett, immer noch überzeugt, dass sie das Opfer eines üblen Scherzes geworden war. Die anderen folgten ihr.
V.J. blieb als Letzte im Horrorkabinett, und die Dunkelheit ringsum nahm rasch zu. Während die Beleuchtung schwächer wurde, betrachtete sie die Wachsfiguren. Es schien, als fingen sie an, sich zu bewegen, als warteten sie nur darauf, dass das Licht ganz verschwand, ehe sie zu vollem Leben erwachten.
„Wartet!“ wollte sie rufen, doch ihre Kehle war zu trocken, und ihr entrang sich kaum mehr als ein Flüstern. Die anderen verschwanden allmählich, und sie stand wie paralysiert dort, während die Figuren lebendig wurden und sich ihr bedrohlich zu nähern schienen, auf Blut aus, sobald ringsum alles in Finsternis versank.
„V.J.!“ donnerte eine Männerstimme.
„Tom!“
Ihn schickte der Himmel. Er war zurückgekommen, sie zu holen, und hielt eine Laterne in die Höhe. Augenblicklich standen die Wachsfiguren gehorsam still.
„Victoria, du willst doch nicht hier unten bleiben, oder?“ fragte Tom sanft.
V.J. fühlte ihre Lebensgeister wieder erwachen und setzte sich in Bewegung. Sie warf Tom ein dankbares Lächeln zu und eilte mit ihm hinter der Gruppe her. Susan ging mit energischen Schritten voraus. V.J. fand es erstaunlich, dass eine Frau wie Susan, die das schlichte Gehen zur Kunstform erheben konnte, plötzlich wütend
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