Mohr im Hemd oder wie ich auszog die Welt zu retten
durch. Und Liu hatte Glück, dass er im Gegensatz zu anderen, die nach Deutschland oder Frankreich oder Holland wollten, tatsächlich an sein Ziel gebracht wurde.
Das Restaurant seiner Verwandten – ein Cousin seiner Mutter und dessen Familie – lag in der Nähe des Naschmarktes, und es wurde für Liu nicht nur zum Arbeits-, sondern auch zum Schlafplatz. Wenn abends irgendwann die letzten Gäste gegangen und auch der Onkel und seine Familie das Lokal verlassen hatten, dann klappte Liu sein Bett im engen Lagerraum auf und versuchte, zwischen Konservendosen und Bierflaschen Schlaf zu finden, bevor am nächsten Vormittag die Arbeit erneut begann. Sieben Tage die Woche schuftete er, ein- oder zweimal im Monat gab ihm der Onkel einen halben oder ganzen Tag frei. Er zahlte weniger als vereinbart, und trotzdem war Liu stolz, als er zum ersten Mal Geld zum Nachhauseschicken in der Hand hielt. Ich mach’ das für dich, sagte der Onkel, und es dauerte zwei oder drei Monate, bis Liu klar wurde, dass der Onkel vor der Überweisung einen Teil für sich abzweigte. Der Onkel schlug ihn, als Liu ihn darauf ansprach, und es gab nichts, was er dagegen tun konnte. Wenn die Tante die Überweisungen machte, dann kam die gesamte Summe an.
Liu musste Geschirr spülen, Gemüse und Fleisch schneiden, den Müll ausleeren und wieder Gemüse schneiden und wieder Geschirr spülen. An den wenigen freien Tagen ging er spazieren, die Angst vor der Polizei war sein ständiger Begleiter, alles war fremd, die Häuser, die vielen Autos, die Gerüche, die Menschen und ihre Sprache, von der er auch nach drei Jahren kaum ein Wort verstand. Einmal fuhr ihn auf einer Kreuzung ein Auto an, er stürzte, sein Kopf schlug auf dem Asphalt auf, als er aufstand, blutete er und war ganz benommen. Die Frau, die das Auto gelenkt hatte, war den Tränen nahe, sie sprach auf ihn ein, er verstand nichts und lief weg, als er den ersten Schock überwunden hatte.
Die Tante wollte mit ihm ins Krankenhaus gehen. Bist du verrückt, schimpfte der Onkel, dann kommt die Polizei und schickt ihn zurück nach China, und wir zahlen Strafe! Liu hatte Schwindelanfälle, ihm wurde übel, er bekam Fieber und war fast zwei Wochen krank. Der Onkel zog ihm am Ende des Monats die Tage vom Lohn ab.
Liu lebte in Österreich, Liu lebte beinahe so weit von Österreich entfernt wie zuvor in China. Liu war unsichtbar, Liu existierte nicht. Es war kein Leben, doch das wusste er damals nicht. Trotzdem war es ein Schock, als der Onkel ihm eines Tages eröffnete, dass das Restaurant geschlossen und die Familie nach Amsterdam ziehen würde. Für Liu gelte das nicht, denn er könne ja nicht auf legalem Weg nach Holland gelangen, das Risiko sei für alle zu groß, und überhaupt könne man ihn dort nicht gebrauchen.
Liu fand Arbeit in anderen Chinarestaurants, doch er wurde schlecht bezahlt und noch schlechter behandelt als zuvor. Eines Tages wurde er wieder krank, er konnte den rechten Arm nicht mehr bewegen. Doch er hatte Glück, der Chef des Restaurants kannte eine Ärztin, sie sprach Chinesisch, sie war freundlich, sie verlangte kein Geld und keine Papiere. Sie war es auch, die ihm von der Möglichkeit des Asyls erzählte. Dann musst du dich nicht mehr verstecken, dann bist du wieder ein Mensch, lautete ihre Verheißung, und sie erklärte ihm, was er zu tun habe. Liu log und verstellte sich ungern, andererseits hatte er auch genug vom ewigen Versteckspiel, und so suchte er also um Asyl an. Vor dem schlechten Gewissen, das ihn fortan plagen würde, weil er nun nicht mehr arbeiten und seine Eltern unterstützen konnte, hatte ihn allerdings niemand gewarnt.
8
Beim Frühstück am nächsten Tag verbreitet sich die frohe Kunde, dass Lius Geld wieder aufgetaucht sei. Des Oheims Moralpredigt, Tuet Buße, meine Schäfchen, zeigt euch als reuige Sünder, um nicht der ewigen Verdammnis anheimzufallen, scheint also ihre Wirkung gezeigt zu haben. Tatsächlich hat Liu jedoch nur vierhundert Euro zurückbekommen. Heute früh hab’ ich sie auf meinem Bett gefunden, erzählt er, als ich ihm am Vormittag über den Weg laufe. Ganz so schlecht scheint das Gewissen des reuigen Sünders also doch nicht gewesen zu sein, der Dieb oder die Diebin hat den Finderlohn zur Sicherheit gleich einbehalten … Liu ist trotzdem froh, und ich freue mich mit ihm. Doch das Schicksal fährt mit ihm in diesen Tagen Achterbahn, vorgestern riss es ihn in die Tiefe, heute früh katapultierte es ihn gen Himmel, zu Mittag geht es
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